„Wenn Safe Sport nicht funktioniert, kann es sehr schnell gefährlich werden“
Die ehemalige Leistungsturnerin Kim Bui erklärt, warum der organisierte Sport dringend Schutzräume benötigt und es dafür eine unabhängige Schiedsstelle braucht.

05.03.2025

Der DOSB hat zehn Forderungen an die neue Bundesregierung aufgestellt – und wir untermauern diese in den Wochen des Bundestagswahlkampfs und der anschließenden Koalitionsverhandlungen mit der Unterstützung von Testimonials aus dem Leistungssport, um anhand von Beispielen aus der Praxis deutlich zu machen, was diese Forderungen dem organisierten Sport bedeuten. Der Link zu allen zehn Forderungen findet sich am Textende. In Folge 7 geht es um Sicherheit und Schutz.
Man traut sich in diesen Tagen ja kaum noch, eine Leistungsturnerin zum Thema Safe Sport anzufragen. So vieles wurde im Zuge der Missbrauchsvorwürfe am Bundesstützpunkt Stuttgart bereits gesagt, und das von fast allen. Trotzdem stellt sich Kim Bui als Testimonial für diesen so wichtigen Punkt sieben der zehn DOSB-Forderungen zur Verfügung. Und das aus voller Überzeugung, „denn auch wenn diese Thematik aktuell dauerpräsent ist, soll sie auch in Zukunft im Bewusstsein bleiben, und es ist gut, dass wir auch im Zusammenhang mit der Bundestagswahl darüber sprechen“, sagt die 36-Jährige, die als Vertreterin der IOC-Athletenkommission einen Platz im Präsidium des DOSB hat.
Die Einführung des Safe Sport Codes auf der DOSB-Mitgliederversammlung im Dezember hat auch die dreimalige Olympiateilnehmerin mit Erleichterung aufgenommen. „Es geht darum, dass wir interpersonaler Gewalt im Sport endlich wirksam und nachhaltig entgegentreten müssen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass wir auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze rechtssicher sanktionieren können, denn nur weil etwas unterhalb dieser Grenze passiert, heißt das ja nicht, dass es Athlet*innen nicht schaden würde“, sagt Kim Bui. Aus ihrer eigenen Erfahrung kann sie viele Beispiele beitragen, wie verbale und körperliche Gewalt die Psyche von Menschen beeinträchtigen kann.
In ihrer Spiegel-Bestseller-Biografie „45 Sekunden – Meine Leidenschaft fürs Turnen und warum es nicht alles ist“ und in der BR-Doku „Hungern für Gold“ hat sie ein halbes Jahr, nachdem sie ihre Karriere im Sommer 2022 beendet hatte, ausführlich über ihre Essstörung berichtet, die aus dem enormen Druck resultierten, den ihr Umfeld auf sie ausübte. „Die Sicherheit im Sport als ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Gut berührt uns alle so, weil der Sport ein Feld ist, auf dem Träume verwirklicht werden sollen. Dafür sind viele Athletinnen und Athleten leider bereit, über Grenzen zu gehen und Opfer zu bringen, die sie für normal halten, obwohl sie das nicht sind. Auch mir ist das passiert, weil ich manchmal zu ehrgeizig war und es unbedingt schaffen wollte. Gerade dann braucht es allgemein gültige Grenzen, die von außen gesetzt werden. Wenn das nicht funktioniert, sondern sogar noch zusätzlicher Druck aufgebaut wird, kann es sehr schnell gefährlich werden“, sagt sie.
Die Erfahrungen aus dem Turnen mögen derzeit vielleicht die Debatte prägen, Kim Bui möchte den Blick aber auf den gesamten Sport weiten, und es ist ihr vor allem wichtig, dass es dabei mitnichten nur um den Leistungssport geht, sondern gerade auch um die Breite. „Es geht grundlegend immer darum, wie Menschen miteinander umgehen. Natürlich gelten im Leistungssport andere Grenzen, das ist auch allen klar. Aber am Ende geht es um zwischenmenschliche Beziehungen und die Verbindung zwischen Trainer*in und Athlet*in, und der Safe Sport Code hilft allen, die gut miteinander umgehen möchten, weil er eine Basis bietet, die diese Beziehungen neu ordnet. Weil nun Dinge, die wir lange als normal angesehen haben, sanktioniert werden können.“
Wichtig: Trainer*innen dürfen nicht unter Generalverdacht gestellt werden
Die Forderung nach dem Erlass einer rechtssicheren Vorschrift, die es ermöglicht, personenbezogene Daten im Zusammenhang mit sportinternen Sanktionen organisationsübergreifend zu übermitteln, hält Kim Bui, die in Tübingen geboren wurde und in Ehningen lebt, für überfällig. „Das ist ein ganz wichtiges Element, um zu verhindern, dass eine Person, die in einem Verband zum Beispiel wegen psychischer Gewalt gegen Kinder sanktioniert wurde, unbehelligt in selber Position in einer anderen Sportorganisation unterkommen kann.“
Dabei sei ihr wichtig zu betonen, dass eine solche Regelung mitnichten Trainer*innen unter einen Generalverdacht stelle. „Die allermeisten Trainerinnen und Trainer leisten großartige Arbeit. Der Safe Sport Code hilft aber auch denjenigen, die zu Unrecht angeklagt werden, indem sie das Recht auf ein faires Verfahren nach gesetzten Standards erhalten.” Auch um Verfahren von unabhängigen Stellen durchführen lassen und die entsprechenden Zuständigkeiten übertragen zu können, bedarf es einer solchen bereichsspezifischen Datenschutzvorschrift für den Bereich Safe Sport, denn nur dann können Sportorganisationen Meldungen mit allen verfahrensnotwendigen Informationen an die Stelle, der sie die Zuständigkeiten übertragen haben, weiterleiten, ohne Gefahr zu laufen, einen Datenschutzverstoß zu begehen und sogar ein Bußgeld zu riskieren.
Kim Bui findet, „dass der Sport dieser einzigartige Ort bleiben soll, an dem alle unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Hintergrund zusammenkommen können, und dafür muss es einen entsprechenden Schutzraum geben.“ Deshalb brauche es eine erweiterte Datenschutzregelung, die es Gerichten und Staatsanwaltschaften ermöglichen soll, Daten aus Strafverfahren mit Safe-Sport-Bezug an die zuständigen Sportorganisationen übermitteln können, um so eine lückenlose Nachverfolgung und Prävention zu ermöglichen. Als Vorlage kann das Anti-Doping Gesetz dienen, das einen solchen Informationsaustausch bereits erlaubt.
Zentrum für Safe Sport als unabhängige Instanz einführen
Funktionieren könne das Safe-Sport-System in Gänze zudem nur, wenn das geplante Zentrum für Safe Sport (ZfSS) als unabhängige Instanz eingeführt und vom Staat auskömmlich finanziert werde. „Der organisierte Sport ist doch überall miteinander verwoben, deshalb ist keine ihm zugeordnete Instanz wirklich unabhängig. Es braucht aber eine Stelle, die ohne den Blick durch die Sportbrille urteilt und nicht die Interessen des Sports, sondern die der Menschen vertritt, die sie anrufen. Deshalb muss das ZfSS so aufgestellt werden, dass es ausreichend Fachwissen und Fachpersonal zur Verfügung hat, das komplett von außen kommt“, sagt Kim Bui.
Die Chance, mit der Umsetzung dieser Forderungen Täter*innen im Sport den Nährboden zu entziehen und ihnen endlich Grenzen aufzuzeigen, schätzt die frühere Profiathletin, die Technische Biologie studiert und eine Ausbildung als systemischer Coach absolviert hat, als gut ein. „Mit der Ausformulierung dieser Forderungen kann endlich sichtbar werden, dass wir alles dafür tun, Sicherheit und Schutz im Sport zu garantieren“, sagt sie. In der Hoffnung, dass irgendwann nicht mehr über Skandale berichtet wird, sondern über ohne psychischen Druck erreichte Erfolge. Im Turnen und überall da, wo in Deutschland eben Sport getrieben wird, sicher und geschützt.