„Wir müssen proaktiv eingreifen, bevor der große Schaden da ist“
Die Weltklasse-Fechter Anne Kleibrink und Maurice Schmidt erklären, warum eine moderne Sportinfrastruktur für Spitze und Breite gleichermaßen wichtig ist.
23.01.2025
Der DOSB hat zehn Forderungen an die neue Bundesregierung aufgestellt – und wir untermauern diese in den Wochen des Bundestagswahlkampfs und der anschließenden Koalitionsverhandlungen mit der Unterstützung von Testimonials aus dem Leistungssport, um anhand von Beispielen aus der Praxis deutlich zu machen, was diese Forderungen dem organisierten Sport bedeuten. Der Link zu allen zehn Forderungen findet sich am Textende. In Folge 1 geht es um Investitionen und Infrastruktur.
„Geht nicht – gibt’s nicht“, das ist das Motto, unter das Maurice Schmidt seinen Alltag als Leistungssportler gestellt hat. Als Goldmedaillengewinner bei den Paralympischen Spielen in Paris hat der 25-Jährige vom SV Böblingen eindrucksvoll bewiesen, dass er als Rollstuhlfechter in der Lage ist, die Grenzen des Machbaren immer weiter zu verschieben. Als Profisportler, der auf barrierefreie Infrastruktur angewiesen ist, erlebt er dagegen manchmal Dinge, die unter die Kategorie „Geht gar nicht“ einzuordnen wären. Und deshalb war er sofort bereit, seine Erfahrungen zu schildern, um die Forderung des DOSB nach kontinuierlicher und ausreichender Unterstützung für den Ausbau, die Sanierung, die Modernisierung und Dekarbonisierung von Sportstätten zu unterstützen.
„Grundsätzlich haben wir im Parasport den Vorteil, dass wir oft in neueren Hallen trainieren, weil das Thema Barrierefreiheit noch nicht lang bei der Errichtung von Sportstätten mitgedacht wird“, sagt Maurice Schmidt, der in Stuttgart Umweltschutztechnik studiert. Deshalb kennt er die Probleme mit maroden Sanitärbereichen, die in vielen alten Hallen Alltag sind, nicht so intensiv aus eigener Erfahrung. Aber was den Mann, der mit Dysmelie, einer Fehlbildung der Gliedmaßen, geboren wurde, oft verärgert, ist die Gleichgültigkeit, mit der Barrierefreiheit vielerorts noch immer angegangen wird.
„Fechten ist ein Randsport, das ist uns bewusst. Wir brauchen auch keine großen Hallen, kommen mit 20x16 Metern Fläche gut aus. Trotzdem müssen viele Vereine auf Kellerräume ausweichen, weil Hallenplatz fehlt, und die Treppen, die man dafür steigen muss, schließen Rollstuhlfahrer aus“, sagt er. Ein konkretes Beispiel: Nach Tauberbischofsheim, wo seine Trainingsgruppe regelmäßig trainierte, können sie aktuell nicht reisen, weil der Treppenlifter zu den Unterkünften defekt ist und die Gruppe dort deshalb nicht geschlossen übernachten kann.
Auch, dass es kaum Hallen gibt, die nur für das Fechten benutzt werden können, erschwere den Alltag, „weil wir immer alles auf- und wieder abbauen müssen und dadurch viel Trainingszeit verlieren.“ Um die Einrichtung einer behindertengerechten Toilette in der eigenen Trainingshalle hat Maurice Schmidt, der während der Pandemie in einem verstaubten Abstellraum auf wenigen Quadratmetern trainierte, lange kämpfen müssen. Und dass sie mittlerweile auch in den Schulferien ihre Halle nutzen können, ist auch seinem Status als Paralympics-Champion zu verdanken. Anderen Sportarten bleibt das Trainingszentrum in den Ferien verschlossen. „So etwas verstehe ich nicht. Sportstätten sind doch dafür da, um genutzt zu werden“, sagt er.
Auf 31 Milliarden Euro wird der Investitionsstau bei der Sportinfrastruktur in Deutschland aktuell taxiert. Eine Summe, die sicherlich nicht nur für Anne Kleibrink „viel zu abstrakt ist, um wirklich zu begreifen, was sich dahinter verbirgt“, wie die Florettfechterin vom DFC Düsseldorf sagt. Umso wichtiger, dass die 33 Jahre alte Olympiateilnehmerin von Paris 2024 aus eigener Erfahrung zahllose Beispiele nennen kann, wo es in Deutschland auch im Kleinen dringenden Nachholbedarf im strukturellen Bereich gibt. Schließlich ist Anne als Mitglied der Sportfördergruppe der Bundeswehr nicht nur Hochleistungssportlerin. Für die Deutsche Fechtjugend ist sie an manch wettkampffreiem Wochenende als Übungsleiterin in der gesamten Republik unterwegs. Mit ihrem Mann Benjamin Kleibrink (39), Florett-Olympiasieger von Peking 2008, gibt sie im Sommer Trainingscamps für Jugendliche, früher in Cottbus und Duisburg, seit zwei Jahren am Bundesstützpunkt in Bonn.
„Mein Glück als Athletin war, dass ich ziemlich früh am Bundesstützpunkt in Tauberbischofsheim trainiert habe und deshalb meist sehr gute Bedingungen hatte“, sagt sie. Dennoch solle niemand glauben, dass die Trainingsstätten für die Elite ohne Makel seien. „In Tauberbischofsheim sind aus Brandschutzgründen seit Monaten das Schwimmbad und die Sauna gesperrt. In Bonn haben wir seit Wochen Probleme mit der Heizung, was im Winter nicht gerade förderlich ist. Und am Olympiastützpunkt Rheinland in Köln funktionieren seit Wochen die Duschen nicht“, zählt sie auf. Turniere auf nationalem Spitzenniveau fänden mangels vorzeigbarer Sportstätten „in Hallen statt, die viel zu klein und viel zu kalt sind. Jemand, der sich nicht auskennt, würde niemals auf die Idee kommen, dass dort die Elite antritt.“
Was an Stützpunkten des Leistungssports eher die Ausnahme ist, erleben im Breiten- und Jugendsport viele Menschen täglich. „Was man in kleinen städtischen oder Vereinshallen teilweise sieht, ist schon krass. Da funktioniert mal nur eine von zehn Duschen, oder es gibt nur kaltes Wasser. Aus manchen Umkleiden möchte man sofort rückwärts wieder herausgehen“, sagt sie, „viele Sportstätten sind nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr nutzbar.“ Diese Erfahrungen decken sich mit den Ergebnissen des jüngsten KfW-Panels „Kommunale Sportstätten“. 62 Prozent der Schwimmbäder, 60 Prozent der Sporthallen und 53 Prozent der Eissporthallen haben mindestens einen nennenswerten Investitionsrückstand, gut jeder zehnten Sportstätte droht eine baldige Schließung, falls nicht zeitnah saniert wird, 36 Prozent der Kommunen werden ihre freiwilligen Leistungen im Bereich Sport in den nächsten Jahren reduzieren müssen.
Zahlen sind das, die auch Anne Kleibrink Sorge bereiten. „Wir haben während der Corona-Pandemie gesehen, welche Folgen es hat, wenn Kinder keinen Sport mehr treiben können. So etwas dürfen wir nicht mehr zulassen“, sagt sie. Dass das infrastrukturelle Umfeld einen Einfluss darauf hat, ob talentierter Nachwuchs im Sport bleibt, dürfe niemanden überraschen. „Man kennt das doch aus der Schule. In einem modernen Klassenraum lernt es sich leichter als einem maroden. Es macht einfach einen Unterschied, ob man in eine moderne Halle mit Tageslicht kommt oder in einem Bunker im Tiefgeschoss trainieren soll“, sagt sie.
Im Fechten, das als Randsport naturgemäß um ausreichende Mittel kämpfen muss, komme erschwerend hinzu, dass eine normale Sporthalle für spezifisches Training nicht ausreicht. „Wir brauchen für professionelles Training Fechtbahnen mit elektronischer Trefferanzeige. So etwas fehlt in vielen kleinen Vereinen leider komplett.“ Stattdessen müssten kleine Vereine mit eigener Halle monatelang warten, bis ein Wasserschaden behoben wird, der den Trainingsbetrieb lahmlegt, und dafür oft in Vorleistung treten, die bisweilen existenzgefährdend sei.
Dank ihrer internationalen Klasse kann Anne Kleibrink die deutsche Sportinfrastruktur mit dem Ausland vergleichen – und dieser Vergleich fällt wenig schmeichelhaft aus. „Selbst in Ländern, in denen Fechten einen ähnlichen Stellenwert hat wie bei uns, ist die Ausstattung oft deutlich besser, weil dort einfach mehr Geld in den Sport investiert wird, während wir auf dem Stand von Anfang dieses Jahrtausends stehen geblieben sind“, sagt sie und erzählt die Geschichte eines neun Jahre alten chinesischen Jungen, der mit seiner Familie aus Shanghai nach Düsseldorf gezogen war. „Der wollte hier gern weiter in einem Verein fechten. Als man seinen Eltern sagte, dass zweimal in der Woche Training angeboten werde, waren die total verwirrt. In der Heimat hatte er sechsmal pro Woche Training.“
Anne Kleibrink unterstützt Forderung nach der Bundesmilliarde
Anne Kleibrink ist es leid, nach Olympischen Sommerspielen regelmäßig das Klagelied über das stetig schwächer werdende Abschneiden der deutschen Mannschaft hören zu müssen. „Uns muss klar sein, dass wir ohne Nachwuchs in Zukunft nicht erfolgreicher werden können. Deshalb braucht es mehr Investitionen und weniger Bürokratie, damit das Geld auch dort ankommt, wo es benötigt wird“, sagt sie. Dass in Deutschland nicht nur im Sport so lange mit Sanierungen gewartet wird, bis ein kapitaler Schaden zum Handeln zwingt, hält sie für fatal. „Wir müssen proaktiv handeln und eingreifen, bevor der große Schaden da ist“, sagt sie.
Ihre Idealvorstellung: Dass in deutlich mehr Städten ein sportartenübergreifender Campus die Gemeinschaft fördert, auf dem gelebt und trainiert und das Trainings- und therapeutische Personal in Synergie geteilt werden kann. Und dass auch in kleinen Sportarten die Breitensportvereine eigene Hallen haben, die sie selbst verwalten und dabei auf einen Fonds zugreifen können, der notwendige Investitionen schnell und ohne viel Aufwand ermöglicht. „Es ist höchste Zeit, dass wir diese Probleme angehen. Deshalb unterstütze ich die Forderung des DOSB nach der Bundesmilliarde sehr.“
Maurice Schmidt möchte seinen Appell über seinen eigenen Sport hinaus formulieren. „Wir haben ein großes Problem mit der Spaltung unserer Gesellschaft, weil viele sich nicht mehr mit anderen Meinungen auseinandersetzen. Sport ist deshalb so unglaublich wichtig, weil dort Menschen aus verschiedensten Kreisen einander näherkommen. Daran sollte jeder Mensch teilhaben können, und dafür ist eine funktionierende Infrastruktur unerlässlich“, sagt er. „Geht nicht“ sollte es im deutschen Sport wirklich nicht mehr geben.