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„Ich habe einen guten Job gemacht – leider bleibt ein fader Nachgeschmack“

Skispringerin Selina Freitag hat persönlich eine grandiose WM erlebt. Doch der Manipulationsskandal um Norwegens Sprunganzüge gibt auch ihr zu denken.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

11.03.2025

Als Selina Freitag am Dienstagmittag ihre Trainingseinheit in Oberstdorf beendet hat und sich telefonisch meldet, ist sie noch immer beseelt von dem, was sie in den vergangenen Tagen erreicht hat. Silbermedaillen in den Einzelkonkurrenzen von der Normal- und Großschanze stehen in ihrer Bilanz der Nordischen Ski-WM in Trondheim, dazu noch Bronze mit Agnes Reisch, Juliane Seyfarth und Katharina Schmid im Teamwettbewerb. Ihrer Favoritenrolle ist die aktuelle Weltcupdritte gerecht geworden, sie hat die Leistung abgeliefert, die sie und das Team sich erhofft hatten. „Für mich persönlich war es eine grandiose WM. Ich habe es geschafft, über die gesamte Dauer der Wettkämpfe meinen Fokus zu halten, was ich als wichtigen Reifeprozess empfinde. Es ist mir zum richtigen Zeitpunkt gelungen, bei mir zu bleiben. Die WM hat mir gezeigt, dass ich all die Jahre einen guten Job gemacht habe“, sagt die 23 Jahre alte Skispringerin von der WSC Erzgebirge Oberwiesenthal, die mittlerweile in Fischen im Allgäu lebt.

  • Für mich persönlich war es eine grandiose WM. Ich habe es geschafft, über die gesamte Dauer der Wettkämpfe meinen Fokus zu halten, was ich als wichtigen Reifeprozess empfinde.

    Selina Freitag
    Skispringerin

    Aber auch Selina Freitag lebt seit vergangenem Samstag in der Gewissheit, dass in der Welt des Skispringens nichts mehr ist, wie es war. Nachdem ein Video aufgetaucht war, das Norwegens Materialteam im Beisein von Cheftrainer Magnus Brevik dabei zeigt, wie es Sprunganzüge manipuliert, überschlugen sich die Ereignisse. Zunächst wurden im Großschanzen-Wettbewerb die norwegischen Springer Kristoffer Eriksen Sundal (im ersten Durchgang wegen Passungenauigkeit), Marius Lindvik (nach dem zweiten Sprung) und Johann Andre Forfang (nachträglich aufgrund von Anzugsmanipulation) disqualifiziert. Es folgten zunächst die üblichen Beschwichtigungen, dann gab Sportdirektor Jan-Erik Aalbu den Betrug mit einem Tag Verzögerung zu. Brevik und Servicetechniker Adrian Livelten wurden suspendiert, Aalbu und die Sportler bestreiten weiterhin, von den Manipulationen gewusst zu haben, und beteuern, lediglich der Wettkampf von der Großschanze sei davon betroffen gewesen.  

    Der Aufruhr in der Szene ist riesig, den Beteuerungen der vermeintlichen Sünder schenkt kaum jemand Glauben. Allen voran hat sich Sven Hannawald (50), Olympia- und Vierschanzentournee-Sieger von 2002, an die Spitze der Anklagefront gesetzt. Schon am Wochenende hatte er in seiner Eigenschaft als TV-Experte von einer „absoluten Farce“ gesprochen, am Dienstag legte er in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ in drastischer Form nach. So forderte er die Suspendierung der norwegischen Männer- und Frauenteams im Springen und in der Nordischen Kombination „als Zeichen, dass alle merken, dass ein solches Handeln ein absolutes No-Go ist. Wenn jetzt keine Köpfe rollen, haben wir in drei Jahren den nächsten Skandal!“ Andreas Bauer, Chef der Materialkommission des Weltverbandes FIS, sagte in der „Stuttgarter Zeitung“: „Ich bin extrem enttäuscht von den Norwegern, die sich diese Art des Betrugs offenbar bewusst für die WM aufgehoben und damit eine ganze Sportart in Mitleidenschaft gezogen haben. Das ist sehr bedauerlich und schade.“ Er brachte als Konsequenz den Einsatz von 3-D-Scannern ins Gespräch, um nachhaltig gegen Materialbetrug vorgehen zu können.  

    Selina Freitag muss mehrmals durchatmen, als sie am Dienstag um ihre Einschätzung der Situation gebeten wird. Bereits an diesem Donnerstag steht in Norwegens Hauptstadt Oslo der nächste Wettkampf an, am Wochenende geht es zum Skifliegen nach Vikersund. Wie unbelastet kann man als deutsche Skispringerin in diese Wettbewerbe starten? „Das ist natürlich eine schwierige Situation“, sagt sie, „aber wir können nichts tun als abzuwarten, was die FIS an Konsequenzen beschließt. Für uns gilt, dass wir uns auf unsere Leistung konzentrieren müssen.“ Vorverurteilung ihrer norwegischen Kontrahentinnen schließt sie aus, das Vertrauen in die Kontrolleur*innen ist bei ihr weiterhin hoch. „Ich hoffe einfach, dass es faire Wettbewerbe werden“, sagt sie.  

    Um als Laie zu verstehen, welche Vorteile durch Anzugmanipulation entstehen können, ist es hilfreich, eine Expertin wie Selina Freitag befragen zu können. Wobei sie den Begriff Expertin in diesem Fall zurückweist: „Ich kann schließlich nicht sagen, wie es sich anfühlt, ein starres Band im Anzug eingenäht zu bekommen.“ Grundsätzlich aber ginge es in der Materialschlacht, die bei allen Skisprungwettkämpfen tobt, immer darum, die Tragfläche zu optimieren, um höhere Weiten erzielen zu können. „Zu einem optimalen Sprung gehören viele sprungtechnische Komponenten. Ein perfekt individuell angepasster Sprunganzug ist eine davon“, erklärt die zweifache Teamweltmeisterin von 2023.  

    Um die Funktion des Einnähens eines starren Bandes zu erklären, wie es die Norweger praktizierten, nutzt Selina Freitag einen Vergleich aus dem Alltag. „Wenn man eine Jogginghose anzieht und den Schritt etwas herunterzieht, hat man mehr Volumen und mehr Fläche bei gleichzeitig erhöhter Spannung. So kann man sich den Effekt vorstellen.“ Auf die Frage, ob es glaubhaft sei, dass Springer wie Lindvik und Forfang, die jeden Tag im Training und bei Wettkämpfen an Verbesserungen feilen, einen solchen Eingriff nicht bemerkt haben könnten, gibt Selina, die dem Zoll Ski Team angehört, eine diplomatische Antwort. „Ich persönlich kann sagen, dass ich Unterschiede spüre im Bereich der verwendeten Stoffe, der Schnittmuster oder anderen Komponenten, aber das vor jedem Wettkampf immer wieder neu checke.“

    • Das, was die Norweger gemacht haben, ist ganz klar Betrug, das haben sie ja selbst zugegeben. Es muss dafür eine so harte Sanktion geben, dass sich in Zukunft niemand mehr traut, so etwas zu tun.

      Selina Freitag
      Skispringerin

      Welche Konsequenzen der Skandal nach sich ziehen wird, ist aktuell nicht vorhersehbar. Eine Disqualifikation des gesamten norwegischen Teams inklusive der Frauen möchte Selina Freitag nicht herbeireden. „Im Damenbereich verstehen wir uns untereinander alle sehr gut, wir pushen uns auch in den Wettkämpfen gegenseitig. Ich wünsche niemandem etwas Schlechtes“, sagt sie. Ihr Eindruck war gewesen, dass durch die Begrenzung der Zahl von Anzügen, die mittels eines Chips von der Prüfkommission für die Wettkämpfe freigegeben werden, der Wettbewerb fairer geworden sei. „Es gibt so viele Regelungen, die Anzüge werden auf Maße wie Bein- und Schrittlänge, Luftdurchlässigkeit und viele weitere Komponenten geprüft. Dadurch ist Manipulation schwieriger geworden.“ Dennoch erhoffe sie sich von der FIS eine deutliche Reaktion. „Das, was die Norweger gemacht haben, ist ganz klar Betrug, das haben sie ja selbst zugegeben. Es muss dafür eine so harte Sanktion geben, dass sich in Zukunft niemand mehr traut, so etwas zu tun.“  

      Auf der Suche nach dem Positiven im Negativen ist Selina Freitag noch nicht fündig geworden. „Es gibt nichts Gutes an dem, was da passiert ist“, sagt sie. „Ich habe in Trondheim zwar einen guten Job gemacht, leider bleibt aber ein fader Nachgeschmack.” Ihre Hoffnung, dass das Skispringen in seiner Gesamtheit nicht daran zerbricht, ist aber groß. „Wir hatten in dieser Saison so viele spannende Wettkämpfe. Es ist so eine geile Sportart, deshalb müssen jetzt alle dabei mithelfen, dass wir uns auf fairen Wettbewerb konzentrieren können.“ Zum Weltcupfinale in Lahti (Finnland) am 20./21. März würde sich Selina Freitag gern wieder unbeschwert über Erfolge freuen können.   

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