Warum Laufen in Deutschland ein boomender Sport ist
Philipp Pflieger, 2016 Olympiastarter im Marathon und aktuell einer der angesagtesten Laufexperten Deutschlands, erläutert die Ursachen, die seinen Sport in Breite und Spitze zu immer neuen Rekordmarken treiben.

15.04.2025

Teilnahmerekorde hier, ausverkaufte Startplätze dort - wer sich zum Beginn der Frühjahrssaison mit Laufveranstaltungen in Deutschland befasst, der kann nur unterstreichen, was seit einigen Jahren zu beobachten ist: Laufen boomt! Um eine umfassende Bewertung zu diesem Phänomen zu erhalten, ergibt es Sinn, Philipp Pflieger zu befragen. Nicht nur, dass der 37-Jährige bis zu seinem Karriereende vor zwei Jahren zu den besten deutschen Marathonläufern zählte. Der gebürtige Sindelfinger, der mit seiner Ehefrau Barbara und Töchterchen Mila (2) in Regensburg lebt, hat sich dank seines Podcasts „Bestzeit“, den er gemeinsam mit ARD-Reporter Ralf Scholt seit einigen Jahren hostet, zu einem angesagten Experten entwickelt. Sein nächster Einsatz: Am 27. April moderiert er in Hamburg den Livestream für den Veranstalter des Haspa-Marathons. „Mir macht das wahnsinnig viel Spaß, weil ich damit meine Leidenschaft für den Sport und für das Moderieren verbinden kann“, sagt er.
Diese Leidenschaft versprüht Philipp Pflieger von der ersten Sekunde des Gesprächs an; vor allem aber, als es um die Frage geht, woher die explosionsartige Entwicklung des deutschen Rekords über die 42,195 Kilometer rührt, die in den vergangenen Jahren zu beobachten war. Zur Erinnerung: Als der Hamburger Arne Gabius im Oktober 2015 in Frankfurt seine 2:08:33 Stunden in den Asphalt brannte, unterbot er damit eine Bestzeit um 14 Sekunden, die Jörg Peter 27 Jahre zuvor aufgestellt hatte. Danach dauerte es weitere acht Jahre, ehe Amanal Petros im September 2023 in Berlin mit seiner 2:04:58 in neue Sphären vorstieß. Seitdem allerdings ging es Schlag auf Schlag. Sechs deutsche Läufer liefen im Zeitraum von Dezember 2023 bis Dezember 2024 schnellere Zeiten als Gabius. Die Rekordhatz gipfelte am 1. Dezember 2024 in Valencia in Samuel Fitwis 2:04:56, die bis dato als deutscher Rekord Bestand hat. Und auch wenn Irina Mikitenkos im September 2008 in Berlin gelaufene 2:19:19 noch immer die Spitzenposition einnimmt, kommen auch sechs der Top-Ten-Zeiten bei den Frauen aus den Jahren 2023/24.
Wie aber war diese Ballung an Spitzenleistungen möglich? Pflieger, der 2016 mit Rang 55 bester deutscher Teilnehmer am olympischen Marathon in Rio de Janeiro war und dessen Bestzeit (2:12:15) aus dem Jahr 2020 stammt, hat dafür einen bunten Strauß an Erklärungen. Die wichtigste: „Die Entwicklung der Carbonschuhe war der Türöffner!“ Das Material ermögliche es den Spitzenläufer*innen, deutlich schneller und nachhaltiger zu regenerieren. „Früher war man nach einem marathonspezifischen 40-Kilometer-Trainingslauf drei Tage matsche. Heute ist zwar das Herz-Kreislauf-System belastet, aber die Muskeln erholen sich viel schneller, so dass eine ganz andere Trainingsfrequenz möglich ist. Und das spiegelt sich in den Leistungen wider“, sagt er. Zudem spiele nicht nur die optimierte Dämpfung eine wichtige Rolle, sondern auch der verbesserte Vortrieb beim Laufen selber.
Mehr Konkurrenz sorgt für deutliche Leistungssteigerung
Nicht außer Acht zu lassen sei aber auch die deutlich gewachsene Konkurrenzsituation, an der Philipp Pflieger vor allem Arne Gabius, aber auch sich und anderen Topläufern aus den Jahren 2005 bis 2015 einen Anteil zuschreibt. „Damals waren wir nur vier Leute, die um die drei Olympiaplätze gekämpft haben. Als Arne dann seine Bestzeit gelaufen ist und auch wir anderen Zeiten rund um 2:12 Stunden erreichten, haben viele jüngere Läufer gesehen: Die können das, dann können wir das auch! Die Aufmerksamkeit für Straßenläufe hat sich in jener Zeit deutlich erhöht“, sagt er. Kein Treiber sei dagegen die von einigen gern hervorgehobene Abstammung jener Läufer wie Fitwi, Petros (beide 29) oder Haftom Welday (35), die alle in Eritrea geboren wurden und nun für Deutschland an den Start gehen.
„Ich weiß, dass manchmal deren Herkunft als Grund für die neue deutsche Stärke angeführt wird“, sagt er. Nicht zu leugnen sei, dass vor allem in Ostafrika die Talentdichte hoch ist. „Das liegt vor allem daran, dass Laufen dort für viele die einzige Möglichkeit ist, sich ein gutes Auskommen zu erarbeiten, daher haben viele Läufer aus dieser Region deutlich mehr Biss und Willen. Außerdem haben sie eine ganz andere Beziehung zu Bewegung. Dort gibt es keine Elterntaxis, die die Kinder zur Schule bringen, und auch keine Fahrräder, so dass es völlig normal ist, viele Kilometer zur Schule zu laufen“, sagt Philipp Pflieger, der die Region aus diversen Trainingslagern im kenianischen Hochland sehr gut kennt. Im Falle der deutschen Läufer*innen afrikanischer Abstammung seien diese Faktoren aber nicht entscheidend. „Die meisten haben erst in Deutschland begonnen, professionell Laufsport zu betreiben. Sie sind deshalb ‚Made in Germany‘ und alle sehr stolz darauf, für Deutschland starten zu können, und ich freue mich darüber sehr. Aber Leute wie Richard Ringer, Hendrik Pfeiffer oder Sebastian Hendel können mithalten und profitieren vom Konkurrenzkampf.“
Dazu komme eine weitere Entwicklung, die dem Laufen extrem zuträglich war: die Pandemie. „So furchtbar die Zeit auch war: Dem Laufen in seiner gesamten Breite hat sie genützt, weil es, gemeinsam vielleicht mit Tennis und Wassersport, eine der ganz wenigen Sportarten war, die ohne Einschränkungen ausgeübt werden durfte. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen auch nach der Pandemie dabeigeblieben sind.“ Zudem ist Laufen ein sehr niedrigschwelliger Sport, es braucht keine teure Ausrüstung und auch keine Mitgliedschaft in einem Verein. So sei zu beobachten, dass in der Altersklasse 25 bis 35 eine neue Begeisterung für Lauftreffs entstanden sei. „Die heißen heute zwar Running Communities, aber sind letztlich nichts anderes als ambitionierte Gruppen, die gemeinsam für Wettkämpfe trainieren. Marathon ist dadurch deutlich jünger geworden“, sagt Philipp Pflieger, der aber explizit klarstellen möchte, dass die Begeisterung für seinen Sport schon deutlich früher beginnt.
„Marathon ist für viele das Ende einer Entwicklung. Um dorthin zu kommen, braucht es aber die Zwischenschritte, deshalb ist auch der Boom bei den 5- und 10-Kilometer-Strecken und beim Halbmarathon sehr wichtig“, sagt er. Grundsätzlich, davon ist er überzeugt, könne jeder Mensch 42,195 Kilometer am Stück laufen. „Die zwei wichtigen Fragen sind: Wie viel Zeit nimmt man sich zur Vorbereitung, und gibt es ein konkretes Ergebnisziel?“ Hauruck-Aktionen wie die des für sein hartes Training berüchtigten Fußballcoaches Felix Magath, der einst den Hamburg-Marathon ohne Vorbereitung lief, weil er der Überzeugung war, dass dafür Willensstärke ausreiche, empfiehlt Pflieger keinesfalls. „Wer heute beschließt, mit dem Laufen anzufangen, der sollte mindestens ein Jahr Vorbereitung einplanen, um es mit einem Marathon aufzunehmen. Wer heute auf einem soliden Niveau der Grundlagenausdauer aufbauen kann, könnte den Berlin-Marathon Ende September anpeilen. Kritisch sind aber immer Zeitziele. Wer so etwas plant, sollte sich zwingend professionelles Coaching suchen.“
Vor Marathonstart sportmedizinisch untersuchen lassen
Überhaupt gelte es auf dem Weg zu einem Marathonstart, Fachpersonal einzubinden. „Am Anfang sollte stets eine sportmedizinische Untersuchung stehen, um etwaige unerkannte Einschränkungen des Herz-Kreislauf-Systems oder des Bewegungsapparates auszuschließen. Am besten ist eine Leistungsdiagnostik, mit deren Hilfe man ermitteln lässt, welcher Belastungskorridor möglich ist und wie man das Training dahingehend optimal dosiert“, sagt er. Drei Laufeinheiten pro Woche seien das Minimum, „wobei nur eine davon ein Long Run zwischen 20 und 35 Kilometer sein sollte, bei dem man an seine Grenzen kommt. Dazu eine Einheit lockeres Grundlaufen und eine etwas intensivere mit Tempoläufen oder Intervallen, dann hat man eine sehr solide Basis.“ Zusätzlich könne auf dem Fahrrad oder im Schwimmbecken die Ausdauer verbessert werden. „Ganz wichtig ist, dass die Regeneration nicht vernachlässigt wird. Sie gehört genauso zum Training wie harte Einheiten.“
Philipp Pflieger, der 2019 sein Buch „Laufen am Limit“ veröffentlichte und darauf bis heute oft angesprochen wird („Es ist immer wieder ein schönes Gefühl, Menschen mit meinen Erfahrungen helfen zu können“), hat beobachtet, dass der Leistungsvergleich für viele Breitensporttreibende nicht mehr im Mittelpunkt steht. „Viele, die Marathon laufen, machen das nicht, um sich mit anderen zu messen, sondern um sich selbst zu überwinden, ohne sich dabei unter zu hohen Leistungsdruck zu setzen. Sport muss heute vor allem Spaß machen und in die Work-Life-Balance passen.“ Dazu passe, dass viele Laufveranstaltungen heute Eventcharakter haben müssten. „Wettkämpfe wie früher, wo der Lauf im Mittelpunkt stand und drumherum nichts geboten wurde, sind nicht mehr zeitgemäß. Es gibt viele, die zum Beispiel einen Halbmarathon mit einem Städtetrip verbinden und nach dem Laufen noch ein paar Tage feiern gehen. Auch mir gefällt die Mischung aus Laufen und Party sehr“, sagt er.
So sehr, dass auch Philipp Pflieger, der heute im Schnitt noch zwei bis drei Laufeinheiten pro Woche absolviert, heute nur noch zum Spaß Marathon läuft - oder für den guten Zweck. So konnte er im vergangenen Jahr laufend Gutes tun und in Berlin 100.000 Euro für die RTL-Stiftung „Wir helfen Kindern“ einwerben. „Da es in die TV-Übertragung eingebunden sein sollte, habe ich mehr als vier Stunden gebraucht, aber es hat riesigen Spaß gemacht“, sagt er. Genau dieses Lebensgefühl ist es, das seinen Sport boomen lässt. Und Philipp Pflieger gibt nun auf anderer Ebene alles dafür, diesen Boom am Laufen zu halten.