Viele Kulturen, wenig Konflikte
Ist die deutsche Leichtathletik so kulturell offen, wie es bei der WM in Moskau schien? Durchaus. Dennoch scheint das Integrationspotenzial des Sports noch nicht ausgeschöpft.

30.08.2013

Genau betrachtet hinkt die Frage. „Ist Raphael Holzdeppe nun der Mesut Özil der deutschen Leichtathletik?“, begann „faz.net“ eine Geschichte im August. Der deutsche Stabhochspringer war gerade Weltmeister geworden bei der Leichtathletik-WM in Moskau, und weil er Afrodeutscher ist, nannte ihn die Online-Ausgabe der Zeitung das Gesicht der „Internationalmannschaft“. Holzdeppe ist in Kaiserslautern geboren, er hat deutsche, nicht zugewanderte (Adoptiv-)Eltern – dunkle Hautfarbe, offiziell kein „Migrationshintergrund“.
Das mit der Internationalmannschaft stimmt trotzdem. Ein Sechstel der 67 für Moskau nominierten Leichtathleten hat Zuwanderungsgeschichte – elf sind es nach DOSB-Recherchen. Eine Hochspringerin mit französischem Vater (Marie-Laurence Jungfleisch), eine Sprinterin, deren Eltern aus Ghana stammen (Yasmin Kwadwo), ein kürzlich eingebürgerter Mittelstreckler (Homiyu Tesfaye) aus Äthiopien und so weiter. Aber das Auswahlteam ist das eine, die Basis etwas anderes.Wie interkulturell ist Leichtathletik, eine, nein die olympische Kernsportart, in der Breite?
Es gibt keine empirischen Zahlen, aber der subjektive Eindruck sagt das Gleiche wie DLV-Sprecher Eberhard Vollmer oder Top-Weitspringerin Sosthene Moguenara (siehe Interview-Link!): Hautfarben, Geburtsorte und Muttersprachen variieren auch in den Vereinen stark. Dass im WM-Team zum Beispiel sechs Afrodeutsche standen und drei aus früheren Sowjetrepubliken stammende Athletinnen, scheint zumindest in der Tendenz repräsentativ zu sein.
Die türkische Lücke
Günther Lohre, Spitzenstabhochspringer von einst, heute DLV-Vizepräsident für Leistungssport, kann das bestätigen. Seiner Ansicht nach ist es auch kein Zufall, dass deutsche Athleten afrikanischer Herkunft oft in Laufdisziplinen und im Weitsprung spitze werden, während etwa im Stabhochsprung immer wieder osteuropäische Namen aufsteigen: vom geborenen Weißrussen und heutigen DLV-Trainer Andrej Tiwontschik, der 1996 in Atlanta Olympia-Bronze gewann, bis zu Lisa Ryzih und Kristina Gadschiew, die im August in Moskau dabei waren. Es klinge abgedroschen, sagt Lohre, aber er sehe eine „kulturelle Brücke“ die die Herkunft eines Athleten mit der Disziplin seiner Wahl verbinde. Jugendliche mit ostafrikanischen Wurzeln zum Beispiel „probieren sich im Laufen aus, weil sie bei internationalen Meisterschaften Menschen der gleichen Herkunft sehen“, so Lohre - und sei es im deutschen Team, könnte man seit Moskau ergänzen, wo der erwähnte Homiyu Tesfaye Fünfter über 1500 Meter wurde.
Allzu direkt darf man den Zusammenhang sicher nicht sehen. Aber während für manche russisch- oder ukrainischstämmige Kids der frühere Stabhochsprung-Heroe Sergej Bubka oder Weltrekordlerin Jelena Issinbajewa Anregung sein mögen, spielt Leichtathletik etwa in der Türkei keine Rolle – was dort verwurzelten Kindern und Jugendlichen die Identifikation mit dem Sport erschwert, wie Lohre sagt. „Es fehlen die Vorbilder, es gibt bisher nicht diesen Mechanismus wie im Fußball oder auch Basketball.“ Fakt ist: In der DLV-Auswahl sucht man türkische Namen vergebens, und unter den insgesamt 853.000 Mitgliedern ist ihre Zahl laut Verband äußerst gering.
Noch ein Unterschied, vor allem zum Fußball: Ein sozialer Aufstieg ist in der Leichtathletik „sehr schwer“, wie Lohre sagt. „Die finanziellen Verlockungen sind ganz andere.“ Bundesliga-Gehälter gibt’s hier ebenso wenig wie in den meisten anderen olympischen Sportarten. Gleichzeitig sind Diskuswerfen, Hürdensprint oder Stabhochsprung sehr trainingsintensiv. „Jede Sportart hat einen Kern und steht für gewisse Wertvorstellungen“, sagt Lohre. Die Leichtathletik stelle „hohe Anforderungen an Beharrlichkeit“. Das sei für bestimmte Milieus interessant und für andere weniger.
Nein, dies ist keine klassische Arbeitersportart wie Fußball oder auch Boxen. Leichtathletik erscheint vielfarbig, kann und muss aber nur bedingt integrieren – es gibt kaum interkulturelle Konflikte und soziale Spannungen. Zumal der körperkontaktlose Sport kaum Aggression schürt. Im DOSB-Programm „Integration durch Sport“ (IdS) wird die Sportart weniger angeboten.
Das weibliche Potenzial
Die Chancen zeigen sich ja auch eher auf den zweiten Blick. So hat der DLV mehr weibliche als männliche Mitglieder – bei einem gleichzeitigen Mangel an Migrantinnen im organisierten Sport: Niedrigschwellige Angebote für Zuwanderinnen könnten das nutzen. Tatsächlich ermöglichen ja wenige Sportarten einen so kostengünstigen, leichten Einstieg. Frank Eser, IdS-Landeskoordinator in Hessen sagt: „Die Leichtathletik bietet sich durch ihre Vielseitigkeit und geringen technischen Anforderungen dafür an, Menschen aller Kulturen anzusprechen. Wir thematisieren diese Chancen auch mit den Fachverbänden. Leider ist es uns noch nicht gelungen, gemeinsam eine breitangelegte Initiative dieser Art zu starten.“ Einzelmaßnahmen haben gezeigt, wie es gehen könnte. In Sprendlingen nahe Frankfurt etwa entstand vor einigen Jahren eine Laufgruppe, die später in die Leichtathletikabteilung der örtlichen SKG überführt wurde.
Der Bedarf an solchen Vereinsprojekten könnte wachsen. Demografischer Wandel und Zeitgeist machen auch dem DLV zu schaffen. Die Mitgliederzahlen sinken, Talente sind schwer bei der Stange zu halten – Lohres Stichwort der Beharrlichkeit. Der Verbandsvize hält eine gezielte Ansprache Zugewanderter perspektivisch für denkbar. Allerdings sei seine Ausgangsposition als Leistungsverantwortlicher eine andere: „Es ist egal, woher jemand kommt. Hauptsache, er oder sie hat einen deutschen Pass.“
Von dieser Ausgangsposition aus nimmt Lohre eine Kurve zur Integration: „Der internationale Leistungsdruck ist in der Leichtathletik enorm hoch, höher als in vielen anderen Sportarten. Man muss also die Talentiertesten in der Fläche finden. Das erfordert es, möglichst viele Mädchen und Jungs mit dem Sport zu konfrontieren.“ Die vermeintliche Kluft zwischen sportlichem und sozialem Anspruch, hier schließt sie sich weitgehend. Lohre: „Es ist wichtig auch Zielgruppen zu erreichen, die der Leichtathletik bisher fern bleiben. Zum Beispiel türkischstämmige Kinder und Jugendliche.“ Gelänge das, würde es allen nutzen: dem DLV, den Kindern, der Gesellschaft.
Text: Nicolas Richter