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Training statt „Technodoping“

Eine Hightech-Prothese kann hartes Training nicht ersetzen, so der Paralympics-Teilnehmer Heinrich Popow bei einer Forumsdiskussion auf der Fachmesse Orthopädie+Reha+Technik in Leipzig.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

26.05.2008

Über das Thema „Paralympischer Spitzensport vor neuen Herausforderungen“ diskutierten am  Donnerstag, 22. Mai 2008, Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann (Deutsche Sporthochschule Köln, Institut für Biomechanik und Orthopädie), Prof. Dr. Gudrun Doll-Tepper (Präsidentin des Weltrats der Sportwissenschaften) und Heinrich Popow (dreifacher Bronzemedaillen-Gewinner bei den Paralympics 2004 in Athen). Die Forumsdiskussion, zu der Medizintechnik-Unternehmen und Paralympics-Förderer Otto Bock eingeladen hatte, wurde von ZDF-Redakteur Peter Kaadtmann moderiert.

Der Internationale Sportgerichtshof hatte am Freitag, 16. Mai 2008, entschieden, dass der unterschenkelamputierte Leichtathlet Oscar Pistorius aus Südafrika bei den Olympischen Sommerspielen in Peking starten darf, wenn er die Qualifikationsnorm erfüllt. Auf der 400-Meter-Strecke fehlt ihm dafür noch rund eine halbe Sekunde. Durch das Urteil hatte das Thema der Forumsdiskussion in der vergangenen Woche an Aktualität und Brisanz gewonnen.

Dementsprechend groß war das Interesse des Messepublikums – auch und vor allem an der Teilnahme von Prof. Dr. Gert-Peter Brüggemann, der im Auftrag des Leichtathletik-Weltverbandes eine Studie über Pistorius geleitet hatte. Bei der Studie war der Kölner Biomechanik-Professor zu dem Ergebnis gekommen, dass Pistorius einen mechanischen Vorteil durch seine Prothesen habe.

Bei der Forumsdiskussion in Leipzig sagte Brüggemann heute, er sei von der Entscheidung des Sportgerichtshofs überrascht gewesen. Allerdings habe die von ihm geleitete Studie lediglich die Vorteile für Pistorius, nicht aber die Nachteile nicht-behinderter Sportler beleuchtet. „Ich habe eine wissenschaftliche Studie vorgelegt, eine Empfehlung habe ich nicht gegeben“, sagte Brüggemann.

„Oscar hat sich seinen Vorteil selbst erarbeitet“, betonte der deutsche Sprinter Heinrich Popow. Auch Prof. Dr. Gudrun Doll-Tepper hält den häufig zitierten Begriff „Technodoping“ für unpassend. Bei Prothesen handele es sich schließlich nicht um unzulässige Hilfsmittel wie Medikamente. Und dass das Material die Leistungsfähigkeit der Athleten steigere, komme im Sport häufig vor. Roberto Simonazzi, ein ehemaliger Paralympics-Teilnehmer im Publikum, sprach einen anderen wichtigen Aspekt an: „Ein Sportler muss in der Lage sein, die Vorteile seiner Prothese zu nutzen.“ Diese Erfahrung hat auch Heinrich Popow gemacht. Anfangs sei er mit seiner Sportprothese langsamer gelaufen als mit seiner Alltagsprothese. Erst durch hartes Training habe sich dies geändert. „Pistorius hat den Umgang mit seinen Prothesen perfektioniert“, sagte Brüggemann, das sei vor ihm noch keinem so gelungen.

Im Laufe der Diskussion wurde deutlich, dass die Entscheidung, ob ein Sportler mit Handicap bei den Olympischen Spielen antreten darf, nicht nur sportlich, sondern im Hinblick auf die Chancengleichheit auch ethisch-moralisch relevant ist. „Oscar Pistorius ist ein absoluter Sonderfall“, sagte dazu Prof. Dr. Gudrun Doll-Tepper.

Sie rechne daher nicht damit, dass in Zukunft viele andere Sportler mit Handicap die Olympia-Qualifikation erreichen und dem Beispiel Pistorius folgen könnten. Sie zeigte Verständnis für Pistorius, der sich neue Gegner suche, mit denen er sich auf seinem Leistungsniveau messen könne. Zu klären sei allerdings, ob ein Sportler, der bei den Olympischen Spielen starte, anschließend auch bei den Paralympics antreten dürfe.

Gunther Belitz, Chefredakteur des Magazins Handicap sowie Weltmeister und Paralympics-Sieger im Hoch- und Weitsprung, sieht mit Blick auf die Integration und Akzeptanz von Menschen mit Behinderung Vorteile in der Diskussion um Pistorius. Früher habe eine beidseitige Amputation als hochgradige Behinderung gegolten, heute fürchteten olympische Spitzensportler die Konkurrenz mit Prothesen. Geklärt werden müsse jedoch, ab welchem Punkt eine Prothese zu mehr als der Kompensation eines körperlichen Defizits diene. „Sport darf keine Materialschlacht sein“, gab auch Prof. Brüggemann zu bedenken.

Heinrich Popow zufolge hätte die Teilnahme von Pistorius an den Olympischen Spielen entweder positive oder negative Effekte. Sie könnte die Aufmerksamkeit auf die beeindruckenden Leistungen von Sportlern mit Handicap lenken. Oder aber dazu führen, dass die Paralympics an Bedeutung und Wert verlieren. Moderator Peter Kaadtmann stellte die Chancengleichheit im paralympischen Spitzensport in einem weiteren Punkt infrage. Athleten, die sich eine moderne Prothese leisten könnten, hätten Vorteile gegenüber anderen. Ein Argument gegen diese These kam von Heinrich Popow: So habe eine chinesische Weitspringerin bei den Paralympics 2004 in Athen die professionell ausgestattete Konkurrenz weit hinter sich gelassen. Zudem sei das beste Material nicht immer das Beste für den einzelnen Sportler. Für die Zukunft hält Popow die Professionalisierung des Sports von Menschen mit Handicap für besonders wichtig. Er selbst trainiert beim TSV Bayer 04 Leverkusen mit nicht-behinderten Sportlern auf höchstem Niveau und unter besten Bedingungen.

Zum Abschluss der Forumsdiskussion wies Peter Kaadtmann auf die Paralympics- Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender von täglich rund sieben Stunden hin. Noch nie zuvor sei der Sendeumfang so groß gewesen. „Ich hoffe, dass so möglichst viele Menschen im Fernsehen die beeindruckenden Leistungen von Sportlern mit Handicap sehen“, sagte Kaadtmann. „Wir Sportler werden uns für das Interesse mit Topleistungen bedanken“, versprach Heinrich Popow.

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