Talentsuche und Talentförderung im internationalen Vergleich
Das Prinzip Zufall hat ausgedient. Talentfindung, Talententwicklung und Talentförderung bekommen in der Trainingswissenschaft einen immer höheren Stellenwert.

15.09.2006

Auf einem eintägigen Fachkongress in Berlin wurde über aktuelle Entwicklungen diskutiert, vor allem wurden neue Forschungsergebnisse über die Steigerung von Nachwuchsprogrammen diskutiert. Eingeladen hatte der Weltrat für Sportwissenschaft und Leibeserziehung (ICSSPE), dessen Präsidentin, die Berliner Erziehungswissenschaftlerin und DOSB-Vizepräsidentin Prof. Gudrun Doll-Tepper, die hochkarätig besetzte Veranstaltung leitete. Das Symposium wurde gemeinsam mit dem Leichtathletik-Meeting ISTAF und dessen Sponsor DKB durchgeführt.
Prof Richard Bailey: "Viele Talente haben keine Chance"
„Erwachsene Sportstars sind Vorbilder für junge Kinder“, erklärte Prof. Richard Bailey von der Roehampton Universität in London in seinem Einführungsreferat. Er wies darauf hin, dass Nachwuchsentdeckung und Talententwicklung in der Praxis immer noch zu viele Unebenheiten hätten. „Voraussagen über die Entwicklung von jungem Sportnachwuchs sind das schwierigste Problem der Talentforschung“, sagte Bailey. Nach wie vor verträten viele Trainer die Ansicht, die jungen Talente sollten möglichst frühzeitig spezialisiert werden. Allerdings hätten langjährige Untersuchungen an Kindern vor der Akzeleration ergeben, dass durch Körpervermessungen oder andere Systeme keine Prognosen über die Physis im Erwachsenenalter abgegeben werden könnten. Und immer noch gäbe es im Sport die Auffassung, wenn ein Kind nicht die richtigen Körperproportionen hat, werde es in der jeweiligen Sportart nicht erfolgreich sein können.
„Systeme, die junge Leute von ihrem ureigenen Talententwicklungsprozess abschneiden, verhindern ein hohes Maß an künftigen Leistungsträgern, bevor sie überhaupt ihr Potenzial zeigen können“, referierte Bailey. „Viele Talente haben deshalb keine Chance, in das System Leistungssport hineinzukommen.“ Aus vielerlei Gründen: Dies liege im Umfeld begründet, aber auch am Tatbestand, dass Kinder schematisch nach Altersgruppen sortiert werden, und so würden viele übersehen, die erst zum Ende eines Jahres geboren wurden und gegen-über anderen des Jahrgangs körperliche Entwicklungsdefizite aufweisen.
„Wichtig ist vor allem: Praxis, Praxis, Praxis“, erklärte der englische Wissenschaftler. Unzählige Studien hätten bewiesen, dass regelmäßiges zielgerichtetes Training der wichtigste Fortschritts-Indikator sei. Kinder, die, aus welchen Gründen auch immer, im Moment nicht ihre Fähigkeiten zeigen könnten, fielen allerdings immer noch sehr schnell durch den Rost: Sie würden nicht als Talente identifiziert.
Charakteristische Merkmale von Nachwuchs-Cracks, so Bailey: Sie kämen aus einer kleinen Familie, mit zwei Elternteilen, in denen zwei oder mehr Pkws zur Verfügung stehen; sie hätten einen hohen sozialökonomischen Status und besuchten höhere Schulen als der Durchschnitt der jungen Leute.
Späte Spezialisierung und Talenttransfer
Dr. Jason Gulbin vom Australischen Sportinstitut berichtete von seinen Studien, wonach 70 Prozent der jungen Topathleten auf zehnjähriges Training in ihrer Sportart zurückblickten, bevor sie in die nationalen Spitzenkader aufrücken konnten. 28 Prozent haben den Sprung nach ganz oben allerdings innerhalb von vier Jahren geschafft, wobei sie zuvor in anderen Sportarten trainiert haben, um sich später zu spezialisieren. Am Beispiel von Skeleton-Athletinnen, die Quereinsteiger waren, wies Gulbin nach, dass Multitalente ihre Fähigkeiten und körperlichen Stärken in schneller als einem Jahrzehnt, dem üblichen Rahmen, entwickeln und erfolgreich umsetzen können. Burnout-Effekte, Verletzungsgefahren und ein Auf und Ab in der Leistungsentwicklung könnten so vermieden werden. Eine späte Spezialisierung und Talenttransfer sollten seiner Auffassung nach als neue Elemente anerkannt werden.
Dr. Sidonia Sherpa von der Humankinetischen Fakultät der Technischen Universität in Lissabon hatte 211 junge portugiesische Fußballer (82 Talente, 129 Nichttalente) untersucht. Wesentliches Ergebnis des Projekts: Talentierte Spieler verfügten über höhere Maßstäbe, sich zu perfektionieren, und hätten überdies weniger Selbstzweifel. Deren Eltern leisteten eine hohe emotionale Unterstützung und nähmen keinen negativen Einfluss. Prof. Hanna Volkova von der Palacky Universität in Olomouc/Tschechien wies darauf hin, gerade die Motivationssteigerung sei ein wesentlicher Baustein, um Topleistungen erzielen zu können: Trainer müssten vor allem die Motivation verfestigen und stabilisieren. Daneben sei die unterstützende Rolle der Eltern für junge Nachwuchsathleten, aber auch in den ersten Jahren des Professionalismus eminent wichtig.
Selbst die Sportwissenschaft, so hieß es am Ende des eintägigen Kongresses, wisse noch zu wenig vom Prozess des Lernens im Sport. Die internationalen Talentforscher machten aber auch deutlich, man könnte zwar voraussagen, wer ein guter Spitzensportler werden könnte, allerdings nicht, wer sich zum absoluten Topstar entwickeln wird. So wies Thomas Reilly von der John Moores University in Liverpool darauf hin, dass es weltweit in den letzten 15 Jahren lediglich fünf absolut perfekte Fußballspieler gegeben habe, die alle Voraussetzungen erfüllten. Gerade in Teamsportarten gebe es immer noch sehr viele limitierte Trainer, beklagte Reilly.
Brückenschlag zwischen wissenschaftlichen Experten und Trainern
Immerhin, weltweit gibt es etliche Studien, die Anwendungsforschung beinhalten und sich für die Umsetzung anbieten. Die konventionelle Praxis, für die Ausbildung des Nachwuchses gelte die Zehn-Jahres-Regel mit 10.000 Stunden Training in der jeweiligen Sportart, ist nicht mehr das Maß aller Dinge. In vielen Ländern kommt eine grundlegende Sportausbildung von Kindern und spätere Spezialisierung zur Anwendung. Der Talenttransfer setzt sich aktuell im britischen Sport im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 in London durch: Headhunter suchen beispielsweise Basketballer oder Rugby-Spieler, um sie für die höheren Förderstufen im Handball und Volleyball zu gewinnen. Grund genug also für die ICSSPE-Präsidentin Prof. Gudrun Doll-Tepper, in ihrem Schlusswort konsequent für einen neuen Brückenschlag zwischen wissenschaftlichen Experten und Trainern im Spitzensport zu plädieren.