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Safe Sport: Betroffene ernstnehmen und Komplexität der Regulierung (an)erkennen

Maximilian Klein, stellvertretender Geschäftsführer von Athleten Deutschland, ordnet die neuen Erfahrungsberichte zu Missständen im Turnen in die Debatte zur aufkommenden Safe-Sport-Regulierung ein.

Kommentar von Maximilian Klein

07.01.2025

Über den Jahreswechsel haben zahlreiche Turnerinnen den Mut gefasst, Gewalterfahrungen, die sie im Laufe ihrer Leistungssportkarriere erlebt haben, zu teilen und Missstände im Turnsport zu benennen. Wieder einmal, nachdem Kolleginnen im Jahr 2020 bereits auf psychische und körperliche Gewalt in Chemnitz aufmerksam gemacht hatten.  

Aus der Melde- und Beratungspraxis unserer Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“ wissen wir, dass hinter jeder Meldung und jedem Erfahrungsbericht ein individueller Aufarbeitungs- und Bewältigungsprozess steckt. Die Betrachtung des Einzelfalls ist entscheidend. Das Erkennen, Aufarbeiten und Teilen des Erlebten, sei es im Privaten, mit Beratungsstellen oder der Öffentlichkeit, ist vielfach ein langer und schwieriger Prozess.  

Zeitpunkt und Form des Teilens wählen Betroffene daher selbst. Das gilt es zu respektieren. Niemand macht es sich leicht, seine oder ihre Geschichte Dritten anzuvertrauen, schon gar nicht der Öffentlichkeit. Deshalb muss unsere Empathie und Sensibilität denjenigen gelten, die den Mut fassen, sich zu offenbaren. Sie müssen ernst genommen, ihren Hinweisen muss professionell nachgegangen werden.  

Betroffene müssen in solchen Fällen unmittelbar und unkompliziert Unterstützung erfahren. Im Hintergrund befinden sich oft Umstehende und Hinweisgebende auf der Suche nach Rat und Orientierung. Manchmal finden weitere Betroffene den Mut, sich zu äußern. Auch diese Gruppen benötigen breit kommunizierte, sichere und niedrigschwellige Hilfsangebote. 

Wer die Stellungnahmen der Turnerinnen liest, muss erschüttert und aufgewühlt sein. Spitzensport darf niemals und nirgendwo auf Kosten der Menschenrechte der Athletinnen und Athleten betrieben werden. Wer die Debatte im Handlungsfeld Safe Sport in den vergangenen Jahren verfolgt hat, dürfte leider über die beschriebenen Missstände nicht allzu überrascht sein, gab es doch in jüngerer Vergangenheit immer wieder ähnliche Fallkonstellationen, gerade auch im Turnsport in anderen (westlichen) Ländern. 

Die Veröffentlichungen der jüngsten Erfahrungsberichte zu Stuttgart fallen in eine Zeit, in der sich das deutsche Sportsystem mit der Verabschiedung des Safe Sport Codes auf den Weg gemacht hat, eine umfassende Regulierung für sicheren Sport umzusetzen. Sie hat das historische Potenzial, Millionen von Menschen besser zu schützen und deutlich effektiver mit Gewalt- und Missbrauchshandlungen im Sport umzugehen. Über die individuelle Fallebene hinausgehend legen die mutigen Schilderungen der Turnerinnen daher auch die Komplexität des systemischen Transformationsvorhabens der Safe-Sport-Regulierung offen. Mit dieser Komplexität kann nur umgehen, wer Schattierungen und Gleichzeitigkeiten zulässt und (an)erkennt: 

Die Spitze der Sportpyramide hat sich zur schrittweisen Umsetzung eines ambitionierten Regelwerks und zur Unterstützung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport verpflichtet. Dies ging mit harten und teils zugespitzten Aushandlungsprozessen einher. Gleichzeitig wird es Jahre dauern, bis Sporttreibende flächendeckend besser geschützt sind. Fehler in der Umsetzung werden einigen, vor allem Betroffenen, Frustrationstoleranz abverlangen, und für viele wird das Regelwerk zu spät kommen. Daher bleiben gute, insbesondere unabhängige Beratungs- und Unterstützungsangebote unverzichtbar. 

In der deutschen Verbandslandschaft sticht der Deutsche Turner-Bund nicht nur wegen seiner schieren Größe, der Körperbetontheit seiner Disziplinen und den frühen Leistungshöhepunkten seiner Athletinnen und Athleten in besonders jungen Jahren heraus. Nach den Vorfällen in Chemnitz entwickelte er sich durch den Kultur- und Strukturprozess „Leistung mit Respekt“ und die Verabschiedung eines Safe Sport Codes, noch vor den Beschlüssen der DOSB-Mitgliederversammlung im Dezember, zu einem Vorreiter für sicheren und gewaltfreien Sport. 

Ein großer Spitzenverband wie der DTB kann also gut in Sachen Safe Sport aufgestellt sein und in bester Absicht handeln. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass ihm, selbst als Vorreiter, keine Fehler unterlaufen oder Betroffene mit dem Handeln des Verbands vollends zufrieden sind. Das bedeutet auch nicht, dass sich ein breit getragener Struktur- und Kulturwandel unmittelbar in den regionalen oder lokalen Ebenen der Sportpyramide bemerkbar macht. Eine solch nachhaltige Entwicklung braucht Zeit (und Geld). 

Viele Sportorganisationen verstehen die Notwendigkeit von (unabhängiger) Aufarbeitung besser, wenn sie einmal mit der Bewältigung von Gewalt- und Missbrauchsfällen in ihrer Struktur konfrontiert worden sind. Der DTB gehört in diese Kategorie. Seit Chemnitz hat sich der Verband Glaubwürdigkeit und Integrität im Handlungsfeld aufgebaut, so dass ihm die angemessene Durchführung des bereits angekündigten Aufarbeitungsprozesses sowie die dafür nötige Fehlerkultur zuzutrauen ist. 

Aufarbeitungsprozesse sind komplex und erfordern Sorgfalt, weshalb alle Beteiligten Zeit und Geduld aufbringen müssen. Der bevorstehende Prozess soll die offenen Fragen und Geschehnisse mit Sensibilität für die Betroffenen klären. So können belastbare Schlüsse zu Fehlverhalten, strukturellen Defiziten sowie zur Wirksamkeit von Meldesystemen, Interventionen und Kommunikationsprozessen gezogen werden. Die menschenrechtliche Verantwortung von Sportorganisationen gebietet es darüber hinaus, das Leid der Betroffenen im Rahmen der Aufarbeitung nicht nur anzuerkennen und ihre Geschichten zur Verbesserung der eigenen Strukturen heranzuziehen - sondern ihnen auch in angemessener Form Wiedergutmachung für das widerfahrene Unrecht zuteilwerden zu lassen.  

Je intensiver derweil an der Safe-Sport-Architektur gearbeitet wird und je besser die Angebote für Betroffene und Whistleblower werden, desto mehr Meldungen und Fälle werden ans Licht kommen. Werden dadurch zumindest kurz- und mittelfristig noch umfangreicher strukturelle und kulturelle Unzulänglichkeiten von Sportorganisationen im Umgang mit Fällen zu Tage gefördert, gilt es das auszuhalten. Ein systemisches Transformationsvorhaben dieser Größenordnung dürfte zunächst Schmerzen im Sport auslösen. Was wie Rückschritt und Rückschlag aussieht, kann Ausdruck von Fortschritt und Wandel zum Besseren sein. 

Für das Gelingen dieser Transformation sind neben der zwingenden Umsetzung des Safe Sport Codes in der Fläche weitere Reformschritte notwendig: ein sinnvolles System von Zuständigkeiten und Zuständigkeitsabgaben, die flächendeckende Anwendung von Standards, effektive Meldesysteme, eine angemessene Ausstattung des unabhängigen Zentrums für Safe Sport sowie die Stärkung sportinterner Kapazitäten sowie der Aufbau einer dezidierten (echten) Schiedsgerichtsbarkeit. Zudem müssen regulatorische Rahmenbedingungen gestaltet werden, etwa durch Anpassung von Fördervoraussetzungen und die Schaffung bereichsspezifischer Datenschutzregelungen für rechtssichere Datenverarbeitung im Safe-Sport-Ökosystem

Dass Kinder und Jugendliche wirksam und umfassend vor Gewalt- und Missbrauchshandlungen im Sport geschützt werden, kann in den 2030er Jahren zu einer Selbstverständlichkeit werden. Dieses Fernziel sollte alle handelnden Akteure außer- und innerhalb des Sports einen und motivieren, nun die weiteren Schritte hin zu einem ganzheitlichen Schutzsystem auf dem Fuße folgen zu lassen. 

Informationen für Betroffene und Ratsuchende: Anlauf gegen Gewalt bietet Hilfe. Die unabhängige Anlaufstelle ist eine Initiative von Athleten Deutschland für Leistungssportler*innen, die psychische, physische und/oder sexualisierte Gewalt erfahren oder in Vergangenheit erfuhren. Die Anlaufstelle ist telefonisch unter 0800 90 90 444 (montags, mittwochs und freitags von 9.00 bis 13.00 Uhr, dienstags und donnerstags von 16.00 bis 20.00 Uhr) oder per E-Mail unter kontakt(at)anlauf-gegen-gewalt.org erreichbar.  

Neben telefonischer und/oder schriftlicher Beratung bietet Anlauf gegen Gewalt bei Bedarf auch psychotherapeutische und/oder rechtliche Erstberatung an. Der Erstkontakt ist selbstverständlich anonym möglich. Betroffenen steht zudem die Möglichkeit offen, von Expert*innen längerfristig und weitergehend begleitet und unterstützt zu werden.   

(Autor: Maximilian Klein (31/Berlin), stellvertretender Geschäftsführer des Vereins Athleten Deutschland)

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