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Rückkehr nach Olympia: Vor 75 Jahren wurde das NOK für Deutschland gegründet

Warum es sich lohnt, an eine Körperschaft zu erinnern, die vor fast 75 Jahren gegründet wurde, obwohl sie seit 18 Jahren offiziell nicht mehr existiert.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

16.09.2024

Muss man, zum Beispiel oder gerade in der DOSB-Presse, an die ein Dreiviertel-Jahrhundert zurückliegende Gründung einer Körperschaft erinnern, die seit nunmehr 18 Jahren explizit gar nicht mehr existiert? Eine rhetorische Frage, die man getrost mit „nein“ beantworten kann: Muss man nicht! Aber: Man kann!

Wer aber sollte sich das Anliegen zu eigen machen, wenn nicht der Deutsche Olympische Sportbund? Wenn auch erst am 20. Mai 2006 gegründet, steht mit einem Blick zurück auf den 24. September des Jahres 1949 doch durchaus auch dessen eigene Geschichte in Rede. An diesem Tag nämlich, es war ein Samstag, wurde in Bonn einer seiner beiden „Vorläufer“ aus der Taufe gehoben, nämlich das Nationale Olympische Komitee für Deutschland.

Auf den Tag genau vier Monate zuvor war das Grundgesetz in Kraft getreten und damit die Gründung der Bundesrepublik vollzogen worden. Vier Jahre nach dem Ende des Krieges war man noch immer in hohem Maße mit der Katastrophe des Dritten Reiches konfrontiert. Das Land war geteilt, politisch und moralisch diskreditiert, wirtschaftlich am Boden und von Leid und Sorge geprägt. So stellte der notwendige, von den Siegermächten - in West und Ost auf signifikant unterschiedliche Weise - eingeforderte und kontrollierte Neuanfang eine exorbitante Herausforderung dar, doch verband sich diese auch mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Irgendwann, nein möglichst bald, sollten auf dem Boden der Zerstörung blühende Landschaften entstehen und ein neuer Geist der Zuversicht Platz greifen. Natürlich wurden Wohnungen und Jobs und vieles mehr gebraucht, aber nach Jahren der Entbehrungen und der Angst wollten die Menschen auch wieder unbeschwert Geburtstag und Karneval feiern, ins Kino oder ins Theater gehen - und wieder Sport treiben oder Selbigen als Zaungäste genießen können.

Stellte die Konsolidierung eines wieder, aber auch gänzlich neu funktionierenden Gemeinwesens wahrlich eine Mammutaufgabe dar, richtete sich das Augenmerkt der Politstrategen aber auch nach „außen“. Schließlich wollte man über kurz oder lang den Makel eines Parias loswerden und einen anerkannten und vollwertigen Platz in der Welt- und Staatengemeinschaft finden. Nur dass es nicht um einen, sondern um zwei Plätze ging. Denn mit der am 7. Oktober 1949 in (Ost-)Berlin vollzogenen Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war die Existenz zweier deutscher Staaten nun politische Realität, auch wenn dies viele im „Westen“, manche gar bis „zum Schluss“ nicht wahrhaben wollten und auch im Osten anfangs noch „Deutschland, einig Vaterland“ angestrebt wurde. Doch die Einbindung in die beiden machtpolitischen Blöcke - 1955 erfolgte der Beitritt zur NATO beziehungsweise zum Warschauer Pakt - verlieh beiden den Charakter von Frontstaaten, deren Grenze nicht Nachbarn, sondern Welten voneinander trennte.

In diesem Kontext erhielt der Sport eine politische Aufladung und damit zwar keine grundsätzlich neue, aber in ihrer Dimension und Konsequenz doch bis dahin ungekannte Implikation. Wenn es in internationalem Rahmen, namentlich bei Welt- oder Europameisterschaften um Rekorde und Medaillen ging, mutierte die Arena zu einem Schauplatz kalter Ersatz- und Stellvertreterkriege, deren Schlachten auch abseits der eigentlichen Felder der Ehre geschlagen wurden. Dass dabei die größte Bühne des Sports das am härtesten umkämpfte Terrain darstellte, versteht sich. Schließlich hatten sich die Olympischen Spiele seit ihrer Premiere 1896 in Athen kontinuierlich zum Flaggschiff des Welt-Sports entwickelt und eine Sport-Welt kreiert, die sich immer größerer Aufmerksamkeit erfreute. Wobei die Entwicklung des Fernsehens zum globalen Massenmedium die Bedeutung der Spiele potenzierte sowie deren Konnotationen intensivierte. Der stetige Anstieg der Einschaltquoten verhielt sich direkt proportional zu einem wachsenden Begehr, diese als Vehikel und Katalysator für außersportliche Interessen nutzbar zu machen. Ein echtes - bis heute nicht gelöstes - Dilemma, das mit den Spielen von 1936 in Berlin erstmals in seiner ganzen Dimension in den Blick gerückt wurde.

Mit dieser etwas ausladenden Hinleitung zum eigentlichen Thema versteht sich die Bedeutung des in Rede stehenden Komitees, das eo ipso nicht mehr und nicht weniger als der Sachwalter der olympischen Sache in nationalem Kontext darstellte. Womit freilich das Problem benannt ist. Die Frage nämlich der „Nation“, die sich im Falle Deutschlands nicht so einfach beantworten ließ. Gab es eine oder zwei? Oder eine Nation und zwei Staaten? Und waren beide völkerrechtlich, politisch und moralisch legitimiert? Oder nur einer oder auch keiner von beiden? Auf diese Fragen gab es 1949, sowie Jahre und Jahrzehnte danach, mindestens zwei Antworten, also erbitterten Streit. Mit anderen Worten: Kalter Krieg.

Vor diesem Hintergrund gab es auch keine einfache Antwort auf die Frage, ob und wie das geteilte Deutschland auf der olympischen Bühne vertreten sein wollte und sollte. Eine Frage, die final erst 1972 geklärt sein sollte, bevor 1992 eine bis auf Weiteres endgültige Antwort gefunden war. Unstrittig war freilich schon damals, dass die Existenz eines Nationalen Olympischen Komitees und dessen formale Anerkennung durch das Internationale Olympische Komitee als dem Souverän der Regeln die unabdingbare Voraussetzung für eine Teilnahme an den Spielen darstellte. Von daher war klar gewesen, dass Deutschland 1948 draußen vor der olympischen Tür bleiben musste. Ganz abgesehen davon, dass der Auftritt einer deutschen Mannschaft so kurz nach dem Krieg für die Gastgeber und das Publikum in St. Moritz und in London eine Zumutung gewesen wäre.

Nun war mit der Gründung eines NOK der erste Schritt für eine „Rückkehr nach Olympia“ gemacht. Und als sich das IOC im Mai 1950 zu einer „vorläufigen“ Anerkennung durchringen konnte, war ein zweiter erfolgt. Zwar wurden - verständlicherweise - vielfach Vorbehalte geltend gemacht, doch hilfreich und vielleicht ausschlaggebend waren langjährige persönliche Beziehungen, etwa zu dem schwedischen IOC-Präsident Sigfrid Edström und dem diesem nachfolgenden Avery Brundage.

Schwierig wurde die Situation für alle Beteiligten, als die DDR - im Gleichschritt mit der Sowjetunion, die sich bis dahin von den Spielen demonstrativ ferngehalten hatte - im April 1951 ebenfalls ein Olympisches Komitee gegründet und um Anerkennung nachgesucht hatte. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch das - mit einem alliierten Sonderstatus ausgestattete - Saarland ebenfalls ein NOK gegründet hatte und bei den Winter- und Sommerspielen von 1952 jeweils mit einer eigenen Vertretung in Erscheinung treten sollte.

Eben dies aber verwehrte das IOC nun der Bundesrepublik und der DDR, indem die Vertreter beider Seiten zu ihrem jeweiligen Leidwesen verdonnert wurden, sich auf die Bildung eines gemeinsamen Komitees und einer gemeinsamen Mannschaft zu verständigen. Ein Auftrag, der sich angesichts der Umstände und der politischen Zwangsjacken der (ver)handelnden Personen als unerfüllbar erwies. Da die Forderungen der im sportpolitischen Ränkespiel noch unerfahrenen ostdeutschen Funktionäre auf westdeutschen Granit stießen, verweigerten sie die Einwilligung in für sie unannehmbare Kompromisse, so dass in Oslo und Helsinki und London zwar eine de jure gesamtdeutsche, de facto aber eine bundesdeutsche Mannschaft nach 16 Jahren Abstinenz wieder deutsche Farben an den Start brachte. Ein bittersüßer Sieg für die bundesdeutsche Seite, der fortan aber zunehmend auch Niederlagen folgen sollten.

Der von der Bundesregierung gehegte Alleinvertretungsanspruch, dem das NOK mit dem Namenszusatz „für Deutschland“ Ausdruck verliehen hatte, war auf Dauer nicht durchsetzbar, die DDR von den olympischen Fleischtöpfen nicht fernzuhalten. Nolens volens musste man sich dem Diktum des IOC fügen, mit der DDR eine gemeinsame Mannschaft zu bilden und zudem zur Kenntnis nehmen, dass deren sportliche Aufrüstung zu immer eindrucksvolleren Ergebnissen führte. Schlimmer noch kam es 1965, als man es, vier Jahre nach dem Bau der Mauer, nicht mehr zu verhindern vermochte, dass der DDR vom IOC eine eigenständige Mannschaft zugebilligt wurde. Eine Art Supergau für das bundesdeutsche NOK und seinen Präsidenten und zugleich die Initialzündung für den größten Coup des Komitees und seines Präsidenten, nämlich die 1966 positiv beschiedene Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Spiele von 1972 in München.

Dieser olympische Ritterschlag aber war an jenem Samstag im Frühherbst 1949 natürlich noch in weiter Ferne und wohl nur in den kühnsten Träumen der Beteiligten eine Option. Allzu bescheiden nämlich war der olympische Neubeginn, allzu groß die Last der Vergangenheit sowie die persönliche Belastung mancher Protagonisten. Den Rahmen der inaugurierenden Versammlung bildete eine „Bundesfeier“, die „Jugend, Sport und Sänger“ am 24. und 25. September „zu Ehren der Bundesrepublik Deutschland und zur Bekundung ihres Aufbauwillens im Sinne des neuen Staates“ in der Bonner Rheinaue zur Austragung brachten. Erstmals seit langem wehte auf deutschem Boden wieder die Fahne mit den fünf ineinander verschlungenen Ringen, das olympische Markenzeichen für das Bemühen um „eine friedliche und bessere Welt“. In seiner Eröffnungsrede bekundete Bundespräsident Theodor Heuss seine Sympathie für den Sport und verwies darauf, dass er selbst einmal Olympia gewesen war und dort das Grab des olympischen Gottvaters Pierre de Coubertins besucht habe.

Die Sitzung zwecks Gründung des NOK, zu der sich insbesondere die Präsidenten der inzwischen gegründeten nationalen Fachverbände beziehungsweise der vorbereitenden „Ausschüsse“ eingefunden hatten, sie begann um 17.00 Uhr im Festsaal des Museums König, blieb Heuss freilich fern. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer fehlte. Statt seiner übermittelte Vizekanzler Franz Blücher die Glückwünsche der wenige Tage zuvor gebildeten Bundesregierung und deren Zusage, das Bemühen um eine Teilnahme an den Olympischen Spielen von 1952 tatkräftig zu befördern.

Geleitet wurde die Sitzung vom designierten Präsidenten, Adolf Friedrich Albrecht Heinrich Herzog zu Mecklenburg, ein 1873 in Schwerin geborener Vertreter des Hochadels, der bis 1914 als der letzte deutsche Gouverneur der deutschen Kolonie Togo im heutigen Ghana fungiert, am Ersten Weltkrieg im Rang eines Oberst teilgenommen und von 1928 bis 1933 den Automobilclub von Deutschland als Präsident angeführt und diesen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bereitwillig  der Selbstauflösung anheimgestellt hatte. Dass er zudem der Großvater des im Dezember 2022 wegen staatsstreichartiger Umsturzpläne verhafteten Heinrich XIII. Prinz Reuß war, kann man ihm an dieser Stelle sicher nicht vorwerfen, zumal Selbiger erst 1951 geboren wurde.

Seine Legitimation und Qualifikation als Gründungspräsident des NOK resultierte im Wesentlichen aus seiner Mitgliedschaft im IOC, die seit 1926 bestand und zwischenzeitig nicht suspendiert wurde. Da er offenbar über das Plazet von IOC-Präsident Edström verfügte, war seine Wahl Formsache. Zu Vizepräsidenten wurden Dr. Peco Bauwens und Dr. Max Danz, die Vorsitzenden des Deutschen Fußball- beziehungsweise Leichtathletik-Ausschusses und zum Schatzmeister der gerade 36jährige Willi Daume gewählt, der eine Woche später zum Präsidenten des Deutschen Handball-Bundes und im Dezember 1950 zum Gründungspräsidenten des Deutschen Sportbundes gewählt werden sollte. Zum Schriftführer und persönlichen Mitglied berief man Carl Diem, den mit Abstand profiliertesten Sportfunktionär der jungen Bundesrepublik, dessen Reputation allerdings nicht tadellos war. Als Cheforganisator der Spiele von 1936 in Berlin wurde er nicht nur in der DDR der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt, auch wenn er, im Gegensatz zu Bauwens, Danz und Daume, nicht Mitglied der NSDAP gewesen war.

Dass eine Verstrickung in die Verbrechen der Nazis kein Ausschlusskriterium für olympische Weihen darstellte, bewies das NOK, als es Karl Ritter von Halt 1951 zum Nachfolger des Herzogs zu Mecklenburg kürte. Der frühere Leichtathlet, der als Deutscher Meister im Zehnkampf 1912 - und als deutscher Fahnenträger - bei den Spielen in Stockholm angetreten war und dort Edström und Brundage kennengelernt hatte, war 1929 ins IOC berufen worden. Inzwischen Vorstandsmitglied der Deutschen Bank war er am 1. Mai 1933 der NSDAP und im selben Jahr der SA beigetreten. Er gehörte zum Freundeskreis Reichsführer SS und hatte mit diesem die KZs in Dachau und Oranienburg besichtigt. Zuletzt diente er dem Dritten Reich in der Funktion des „Reichssportführers“. Was ihn aber offenbar nicht hinreichend disqualifizierte, um NOK-Präsident zu werden und dies zehn Jahre zu bleiben.

1961 übernahm Willi Daume, der spätestens damit zur bedeutsamsten und prägendsten Persönlichkeit des (bundes)deutschen Nachkriegssports avancierte. Er blieb nicht weniger als 32 Jahre im Amt. Die ersten neun Jahre seiner schier unendlichen Amtszeit blieb er in Personalunion auch der Präsident des Deutschen Sportbundes. Womit er in gewisser Weise die Fusion der beiden wichtigsten Dachverbände vorwegnahm, die am 20. Mai 2006 in der Frankfurter Paulskirche vollzogen wurde. Damit begann für das Nationale Olympische Komitee für Deutschland 57 Jahre nach der Geburt gleichsam ein Leben nach dem Tod, indem aus dem „Nationalen“ ein „Deutscher“ und aus dem „Komitee“ ein „Bund“ sowie das Adjektiv „olympisch“ mit dem Oberbegriff „Sport“ in Verbindung gebracht wurde.

Haben sich neben der Begrifflichkeit auch die Zeiten geändert, ist das Kerngeschäft doch das alte geblieben: Die Entsendung einer Mannschaft zu den Olympischen Spielen und, gegebenenfalls, die Lancierung und Einreichung einer an das IOC adressierten Bewerbung um die Ausrichtung derselben. Ob bei diesem schwierigen Geschäft ein Erinnern an den Anfang des Bemühens hilfreich ist, mag dahingestellt bleiben. Schaden sollte es jedenfalls nicht.

Autor: Dr. Andreas Höfer (Deutsches Sport & Olympia Museum) 

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