Kirsten Bruhn, Sportbotschafterin der Sportabzeichen-Tour 2015: "Meine Vision von Inklusion"

19.07.2017

Drei paralympische Goldmedaillen, sechs WM-, acht EM-Titel und unzählige Rekorde. Kirsten Bruhn hat in ihrer Schwimmkarriere alles erreicht, was man erreichen kann. Seit ihrem Karriereende 2014 hat die 45-Jährige eine neue Aufgabe. Als Botschafterin der Sportabzeichen-Tour des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der Unfallklinik Berlin und der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung setzt sie sich für die Themen Integration und Inklusion ein. Im Interview spricht Bruhn über ihren neuen Berufsalltag, ihre Vision von einer gelebten Inklusion und wie ihr der Sport dabei geholfen hat, mit ihrer inkompletten Querschnittslähmung umzugehen.
Frau Bruhn, Sie haben Ihre sportliche Karriere im vergangenen Jahr beendet. Fehlt Ihnen seitdem etwas?
Kirsten Bruhn: „Es ist auf jeden Fall eine große Umstellung, die mir nicht leicht fällt. Der Geist sagt immer: ‚Du musst etwas tun. Sonst wird der Körper schwach oder träge oder fett (lacht). Aber ich habe jetzt meine Arbeit und der Tag hat nur 24 Stunden. Ich habe das Gefühl, ich kämpfe jetzt mehr gegen mich als ich es vorher je getan habe.“
Wie meinen Sie das?
Bruhn: „Als Athlet ist man es gewohnt, dass man das ganze Jahr komplett durchplanen kann. Ich weiß, wo ich wann wieso bin. Und das ist wenig fremdbestimmt. Jetzt ist es so, dass ich nicht einmal eine Woche organisiert planen kann. Da muss ich mich erst noch daran gewöhnen.“
Als Botschafterin der Unfallklinik Berlin und der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung setzen Sie sich jetzt hauptberuflich für die Themen Integration und Inklusion ein. Was hat Sie dazu bewegt?
Bruhn: Ich wollte immer helfen. Denn es ist ein schönes Gefühl, wenn man jemandem über eine Barriere helfen kann. Nach einem Jahr als Au-pair in den USA und meinem Motorradunfall habe ich 19 Jahre bei der AOK Krankenkasse gearbeitet. Als der Chef der Unfallklinik dann an mich herantrat und sagte, dass wir gemeinsam viel bewegen könnten, habe ich mich dafür entschieden. Jetzt kann ich am Menschen und nicht im Büro agieren. Ich kann Menschen dafür sensibilisieren, was es heißt, nicht alles zu können. Ich gehe in Schulklassen und unterhalte mich mit den Kindern, die teilweise integrativ oder inklusiv beschult werden. Ich bin an Universitäten, bringe Studenten bei, wie man mit Menschen mit Behinderungen umgeht. Mein Ziel ist es, dass diese Menschen ein leichteres Leben haben und in dieser Gesellschaft integriert sind.
Zudem werden Sie das Inklusionsprojekt im Rahmen der Sportabzeichen-Tour als Patin begleiten. Was wollen Sie mit diesem Engagement bewirken?
Bruhn: Ich habe aus eigener Erfahrung erlebt, dass das Leben mit einer Behinderung alles andere als leicht ist und dass einem manchmal Hindernisse in den Weg gelegt werden, die gar nicht notwendig sind. Aufgrund von Unerfahrenheit, Ungewohnheit, Ängsten und Hemmungen. Und diese Dinge möchte ich, so gut es geht, minimieren. Dann wird für beide Seiten das Leben einfacher. Für Menschen mit und ohne Behinderungen. Wir müssen das Bewusstsein erlangen, dass wir alle ganz normale Menschen sind. Jeder hat Ziele, Liebeskummer, Freunde und Feinde, ganz gleich ob mit oder ohne Behinderungen.
Wie kann man diesen Ansatz auf die Sportabzeichen-Tour anwenden?
Bruhn: Inklusion funktioniert am besten im Sport. Egal ob Männchen oder Weibchen, alt oder jung, mit oder ohne Behinderungen. Das Miteinander und Spaß an diesem Miteinander - das ist das Entscheidende. Und da möchte ich auch auf der Sportabzeichen-Tour mein Möglichstes dazu beitragen.
Sie waren auch 2014 beim Deutschen Sportabzeichen-Tour-Stopp in Kiel, der im Zeichen der Inklusion stand, vor Ort. Wie haben Sie die Veranstaltung erlebt?
Bruhn: Ich war irre begeistert. Vor allem, dass man diesen Schritt gewagt hat. Und wenn man dann die Begeisterung der Kinder sieht, geht einem das Herz auf. Egal ob die Kinder gemeinsam Sport gemacht oder getanzt haben: Es war ein Tag voller Esprit. Und es wird dringend Zeit, dass es noch mehr solcher Projekte gibt.
Wie sieht Ihre Vision von einer gelebten Inklusion im Breitensportbereich aus?
Bruhn: Meine Vision ist, dass wir es für selbstverständlich erachten, dass jemand, der nur einen Arm hat, im Rollstuhl sitzt, blind ist oder eine geistige Behinderung hat, auch Handball spielen möchte. Und dass man demjenigen die Möglichkeiten dazu gibt. Es muss aber auch respektiert werden, dass man nicht alles zusammen machen möchte oder eben auch gar nicht kann.
Wie kann man Ihrer Meinung nach Menschen mit und ohne Behinderungen in Zukunft noch besser zusammen bringen und eventuell bestehende Berührungsängste abbauen?
Bruhn: Ängste kann man nur abbauen, indem man das zur Gewohnheit macht. Und das sollte schon im Kleinkindalter beginnen. Denn wenn es Kinder nicht schon in diesem Alter als normal erkennen, wird es danach immer schwieriger. Darum ist es meiner Meinung nach ein Muss, Kindertagesstätten inklusiv zu gestalten. Und dafür müssen wir dann eben die finanziellen Möglichkeiten bereitstellen. Und zwar von der Betreuung bis zur Barrierefreiheit.
Wenn Sie sich an Ihre Anfänge im Behindertensport erinnern: Gab es damals schon Inklusion und wie hat sich das seitdem entwickelt?
Bruhn: Es hat sich stetig entwickelt und entwickelt sich ja immer noch. Und das ist auch gut so. Wenn ich auf die Paralympischen Spiele zwischen 2004 und 2012 als Etappen zurückblicke, hat sich viel getan. Die mediale Präsenz ist sehr viel größer geworden. Die Abläufe sind professioneller. Es ist selbstverständlich geworden, dass Athleten mit und ohne Behinderungen mittlerweile gemeinsam trainieren. Es wird zwar immer gesagt, dass sich Behinderte viel von Nicht-Behinderten abschauen können. Aber es ist eher andersrum. Die Selbstverständlichkeit, wie wir mit unseren besonderen Voraussetzungen umgehen, beobachten viele Nicht-Behinderte mit Bewunderung. Das habe ich am Olympiastützpunkt oft selbst erlebt. Und wenn wir diese Ansicht im ganzen Land verbreiten, dann dauert es maximal noch zehn Jahre, bis Inklusion Normalität wird.
Sie haben eine lange Karriere mit unzähligen Erfolgen hinter sich. Hätten Sie sich das jemals erträumt?
Bruhn: Nein (lacht). Mein Vater (trainierte Kirsten Bruhn während ihrer Karriere, d. Red.) und ich sind damals sehr naiv an die Sache rangegangen. Ich war vor dem Unfall bereits Leistungsschwimmerin und wusste, wie der Hase läuft. Aber an paralympische Spiele habe ich damals nie gedacht. Dass das dann 13 Jahre werden mit einer Karriere, die kaum steiler sein könnte - das habe ich nie zu träumen gewagt und ich kann es auch heute oft noch nicht glauben.
Sie haben einmal gesagt, Sie hätten nach Ihrem Motorradunfall 1991, bei dem Sie eine inkomplette Querschnittslähmung erlitten haben, zehn Jahre lang geschlafen. Was war der Moment, an dem Sie aufgewacht sind?
Bruhn: Das war der erste internationale Wettkampf in Berlin. Da habe ich erstmals wieder diese Lust am Leben gespürt. Das Adrenalin, den Kampfgeist, das Wetteifern mit anderen, die in der gleichen Situation sind. Und ich hatte das Gefühl dazuzugehören. Das kannte ich zuvor seit meinem Unfall nicht mehr. Diese Leichtigkeit, dieses Naiv sein, das wurde mir mit dem Unfall genommen. Ich musste alles durchplanen. Mit diesem Wettkampf spürte ich wieder eine Flamme, die größer werden kann und ich hatte ein Ziel, auf das ich hinarbeiten kann.
Wie sehr hat Ihnen der Sport dabei geholfen, mit Ihrer Behinderung umzugehen?
Bruhn: Der Sport hat mir immer geholfen. Vorher, währenddessen und danach. Jeder Mensch braucht etwas, bei dem er sich abreagieren kann und Stress und Probleme vergessen kann. Dieses Ventil war für mich immer der Sport. Das kann ich auch nur jedem empfehlen. Ohne dass es Hochleistungssport sein muss. Wenn man das dann auch noch in Gesellschaft Gleichgesinnter macht, ist das die beste Bestätigung.
Gibt es nach Ihrer Karriere noch einen Traum, den Sie sich erfüllen möchten?
Bruhn: Ja (lacht). Ich bin modisch sehr kreativ. Egal ob Innenarchitektur, Design, Kleidung oder Schmuck. Und mein großer Traum wäre ein eigenes Label. Und der zweite Traum ist, dass wir auf dieser Welt verstehen, was es heißt, miteinander zu agieren und andere nicht durch Vorurteile schlechter zu machen. Dazu würde ich gerne meinen Beitrag leisten.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Bruhn.
(Quelle: Wirkhaus/DOSB)