Heimspiel im Hochhausdorf
Bundesminister trifft 60plusplus: Hermann Gröhe und andere Verantwortliche besuchen ein ZuG-Projekt in Köln-Chorweiler. Es wird ein entspannter Nachmittag – und ein lehrreicher und unterhaltsamer obendrein.

18.08.2015
Von einem wie Henryk Stempin lässt man sich gerne ermahnen. Wenn der Übungsleiter mit dem grauen Haar, dem aufrechten, muskelgewölbten Körper eines Ex-Turners und der polnisch akzentuierten Stimme ruft: „Den Rücken gerade“, klingt das nach sanfter Bitte, nicht nach Kommando. Auch ist er selbst ein strahlendes Vorbild für seine Trainingsgruppe, wenn er während der anfänglichen Übung – alle gehen durcheinander und übergeben einander ihre Gymnastikringe – sagt: „Und immer daran denken zu lächeln, ganz doll“. Natürlicher, gelassener kann Autorität kaum sein, denkt man, und tatsächlich macht sich jetzt erstmals das Lächeln breit in dem gewiss nicht schönen, aber hier und heute einladenden Ambiente von Köln-Chorweiler: bei den nicht mehr ganz jungen Schülerinnen und dem Schüler von Henryk Stempin, bei den teilweise prominenten Zuschauern, auch bei Hermann Gröhe, dem Ehrengast.
Ein ultrahocherhitzter Nachmittag Mitte August. Im Gott sei Dank beschatteten Innenhof eines Hochhausgiganten gibt eine im Rahmen des DOSB-Projekts „Zugewandert und Geblieben“ (ZuG) formierte Sportgruppe des DJK Wiking Köln eine Vorführung. Dreizehn Frauen, ein Mann, aus fünf verschiedenen Ländern stammend, zwischen 61 und 86 Jahre alt, recken und strecken, kräftigen und koordinieren sich. Anlass des Open-Air-Trainings vorm Plattenbau ist der Besuch von Hermann Gröhe, dem Bundesgesundheitsminister. Er ist gekommen, um die Praxis von ZuG aus nächster Nähe zu betrachten. Die Fördergelder seiner Behörde haben die Initiative ermöglicht, die von fünf Mitgliedsorganisationen des DOSB umgesetzt wird, darunter der DJK als katholischem, christlich geprägtem Sportverband. Neben Hermann Gröhe sitzt Walter Schneeloch in der ersten Stuhlreihe, Vizepräsident Breitensport und Sportentwicklung des DOSB, auch Heidrun M. Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Karin Fehres als DOSB-Vorstand Sportentwicklung und DJK-Präsidentin Elsbeth Beta sind zugegen. Die oberste Projektebene begegnet der Basis.
Es ist ein erstaunlich entspanntes Aufeinandertreffen. Vielleicht, weil viele ein Heimspiel haben. Der Rheinländer Gröhe – Studium in Köln, Zuhause in Neuss, kaum 30 Kilometer von Chorweiler entfernt, – der sein Jackett im Bus gelassen hat, ebenso wie die Sportgruppe der DJK Wiking; die trifft sich immer unter dieser Adresse, in einem der Gemeinschaftsräume im Haus, die der Eigentümer Sahle Wohnen zur Verfügung stellt. Und auch Hans Sarpei, Stargast der Veranstaltung, kennt sich aus. Der Ex-Fußballer und Sieger der RTL-Show „Let's Dance 2015“, wuchs ein paar Meter weiter auf. Als er in der Talkrunde ans Mikrofon tritt, erzählt er, dass an den Hauswänden dort noch sichtbar sei, was er und seine Freunde vor über 30 Jahren draufgekritzelt hätten. Das finde er traurig.
Forschen an der Schnittstelle
Tatsächlich steht Chorweiler in Köln für stadträumliche Tristesse und soziale Benachteiligung. Laut dem Monatsmagazin „Stadtrevue“ beziehen 41 Prozent der Bewohner Hartz IV. Der Bezirk wurde seit den 60ern hochgezogen, Wohnblock neben Wohnblock, ein nicht nur hier gescheitertes Modell. Aber es bewegt sich etwas, stadtpolitisch und sozial. Heike Awerkiew, die die Gruppe am Mikrofon vertritt, nennt den Betonriesen hinter sich, in dem sie und viele andere Gruppenmitglieder leben, ein „Hochhausdorf mit 500 Bewohnern“. Sie erzählt von guter Stimmung im Wohnblock, von einem Nachbarschaftsverein, der reichlich Angebote für Kinder und Senioren mache. Und sie verdeutlicht, wie wertvoll Projekte wie ZuG, Akteure wie die DJK Wiking, Menschen wie Henryk Stempin in diesem Umfeld sind. Die Verve, mit der die 68-jährige frühere Deutschlehrerin von der „Freude an der Bewegung“ (siehe Meldung), dem Spaß am Sport mit (fast) Gleichaltrigen erzählt, lässt keinen Zweifel.
Der Projektpartner
Das 2013 gestartete Projekt „Zugewandert und Geblieben“ wird mit fünf Mitgliedsorganisationen des DOSB und jeweils mindestens drei Vereinen umgesetzt. Im Fall des katholischen Sportverbandes DJK sind dies drei Kölner Vereine, darunter die DJK Wiking. Der etwa 2000 Mitglieder und 14 Abteilungen zählende Breitensportverein ist der größte Chorweilers und einer der größten im Kölner Norden, zudem vielsprachig und multikulturell. Er ist Stützpunktverein im DOSB-Programm „Integration durch Sport“. Etwa ein Drittel seiner Mitglieder sind über 60 Jahre alt.
Etwa 75 Prozent der Bewohner von Chorweiler haben eine Migrationsgeschichte, das ist im Sinne von ZuG wichtig. In dem Projekt geht es laut DOSB-Vize Schneeloch ja an der „Schnittstelle“ von Menschen in hohem Alter und mit unterschiedlichster Herkunft, darum, Zugänge zu älteren Zugewanderten zu erforschen. „Diese Menschen leben zwar seit Jahren hier, aber viele kennen die deutsche Vereinskultur nicht“. Das ist auch aus Sicht der Gesundheitspolitik ein Problem, wie Gröhe bestätigt (siehe Interview), gerade mit Blick auf das Thema Prävention. „Ernährung und Bewegung sind entscheidend, um das zu vermeiden, was die Fachleute ‚lebensstilbedingte Erkrankungen‘ nennen und was uns im Alter zur Last werden kann“, so der Bundesminister. Wo kein Zugang zu diesen Menschen, da keine Aufklärung.
Der Trainer entscheidet
Wie also erreicht man die Migranten „60 plus und plusplus“ (Awerkiew)? Und wie entsteht so eine Gruppe, die im März 2015, nur vier Monate nach ihrem Start, dem Verein beigetreten ist? Das sind die zentralen Fragen dieses Nachmittags. Liegt alles am Trainer, an der Person von Henryk Stempin? Ganz viel zumindest, sagt Lars Görgens, Erster Vorsitzende der DJK Wiking: „Der Erfolg steht und fällt mit dem Übungsleiter. Wenn er nicht die Begeisterung und Motivation für den Sport vorlebt, dann wird eine Gruppe nicht so Bestand haben wie in diesem Fall.“ Zudem sei die eigene Migrationserfahrung des Betreuers ein großer Vorteil. Der Verein hat in allen fünf von ihm lancierten ZuG-Gruppen Übungspersonal mit ausländischer Herkunft (und Lizenzausbildung) eingesetzt.
Das andere Entscheidende sei die persönliche Ansprache, über Partner mit entsprechenden Kontakten, hier Sahle und ein Mieterverein namens Neues Wohnen. Es ist die Stelle, an der Bundesminister Gröhe es nochmal genau wissen will: „Wie kam der Wechsel von einem Nachbarschaftstreffen zu einer Sportgruppe zustande?“ Heike Awerkiew antwortet: „Goethe hat einmal gesagt: Irgendwann fängt alles an. Wir hatten ein Frühstück mit unserer Seniorengruppe in einem der Gemeinschaftsräume. Herr Görgens kam dazu, sah und siegte – er hatte uns gleich für sich gewonnen. Und dann lernten wir noch den Trainer kennen, der einfach so charmant ist, der uns immer lobt, obwohl wir so miserabel sind. Das ist ganz, ganz großartig.“ Spricht's und legt so nochmal Zeugnis ab für eine Erkenntnis des Nachmittags: Alter schützt nicht vor Enthusiasmus. Wie schön.
(Autor: Nic Richter)
Weitere Informationen zum Projekt „ZuG“ sowie den teilnehmenden Verbänden und Vereinen finden Sie hier.
Für Fragen und Anregungen steht Ihnen die Projektleiterin Verena Zschippang zur Verfügung.