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Eine Erinnerung an den tragischen Fall Birgit Dressel

Mit dem nachstehenden Beitrag erinnert der Sportwissenschaftler, freie Autor und Journalist, Andreas Singler, an den Tod von Birgit Dressel, die heute vor 20 Jahren an einer Medikamentenvergiftung starb.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

10.04.2007

Vor 20 Jahren, am 10. April 1987, starb die Mainzer Siebenkämpferin Birgit Dressel an einer Medikamentenvergiftung. Auch Dopingmittel hatte die damals 26-Jährige auf verbandsärztliche Verordnung eingenommen. Ihr Tod bleibt Mahnmahl und Verpflichtung für den organisierten Sport, alles erdenkliche gegen Manipulation im Spitzensport zu unternehmen.

Im Jahr vor ihrem Tod hatte Sportlerin Birgit Dressel eine denkwürdige  Begegnung. Der Mainzer Apotheker Horst Leo Klehr, damals Frauenwart des Rheinhessischen Leichtathletik-Verbandes, sprach die Siebenkämpferin des USC Mainz am Rande eines Wettkampfes direkt auf eine Problematik an, zu der sonst nur eisern geschwiegen wurde: Doping. Klehr hatte einst die erste Liste verbotener Substanzen für den bundesdeutschen Sport verfasst, dann in den 70er Jahren als einer der ersten Kontrolleure Tests im Wettkampf durchgeführt, und er war auch nicht davor zurückgeschreckt, Spitzenfunktionäre und Ärzte der Mitschuld an Dopingpraktiken des Westens – berechtigtermaßen – öffentlich anzuprangern.

Darüber war er zum Außenseiter degradiert worden. Aber besonders beim Thema Doping mit anabolen Steroiden war Klehr hellwach geblieben. 1986 also, ein Jahr vor dem schwärzesten Tag des westdeutschen Sports, ging er auf Birgit Dressel zu. Ihm waren körperliche Veränderungen – stärkere Muskulatur oder das vom Medikamentenmissbrauch aufgeschwemmte Gesicht – aufgefallen. Horst Klehr wollte die Sportlerin vor den schädlichen Nebenwirkungen insbesondere des Hormondopings warnen. „Heutzutage“, habe Birgit Dressel daraufhin entgegnet, „ist das alles reversibel“.
Der Todeskampf der Birgit Dressel zog sich über mehrere Tage hin. Er war von unerträglichen, ständig größer werdenden Qualen begleitet. Am Morgen des 7. April hatte sich die Mainzer Leichtathletin erstmals an einen Orthopäden in Mainz gewandt. Schmerzen in der Lendenwirbelregion hatten sich zwei Tage zuvor beim Kugelstoßtraining bemerkbar gemacht. Doch die Schmerzmittel, die der Arzt der deutschen Siebenkampfmeisterin verabreichte, verfehlten ihre Wirkung wie all die anderen Medikamente, die sie in den folgenden Tagen von immer mehr Ärzten erhalten sollte. Drei Tage später, in den Abendstunden des 10. April, starb Birgit Dressel auf der Intensivstation der Mainzer Universitätskliniken an einem „komplexen toxisch-allergischen Geschehen“, wie die medizinischen Gutachter später herausfanden.

Unklarheit darüber, was genau diese Medikamentenvergiftung ausgelöst hatte, herrscht bis heute. Zwar konnte relativ sicher bestimmt werden, dass eine überdosierte Gabe des Schmerzmittels Metamizol am Todestag mitursächlich für einen Schock war, der zum Multiorganversagen führte. Den Gutachtern lagen jedoch auch Anhaltspunkte dafür vor, „dass die vorangegangene, jahrelang durchgeführte Behandlung mit den unterschiedlichen Substanzen und Arzneimitteln die Ausbildung des toxisch-allergischen Geschehens förderten“.
Damit geriet ihr jahrelang behandelnder Arzt Armin Klümper ins Zwielicht. Der Verbandsarzt der deutschen Leichtathleten hatte Birgit Dressel in seiner Freiburger Mooswaldklinik mit einer breiten Palette an Behandlungsformen  überzogen. Hunderte Spritzen und zahllose Medikamente mit bisweilen mehr als fragwürdiger Indikation wurden verabreicht. Sie richteten im Körper der – wie Klümper befand – „eigentlich immer gesünder“ werdenden Patientin einen nicht wieder gut zu machenden Schaden an. Schmerzmittel halfen jetzt nicht mehr, zu schwer waren die Rückenmarksnerven der Sportlerin entzündet. Im Gutachten war gar von „neurologischen Ausfallerscheinungen im Sinne einer aufsteigenden sensiblen Lähmung“ die Rede.

Die gebürtige Bremerin Birgit Dressel war längst nicht mehr gesund, obwohl sie im Sport – auch dank der von Professor Klümper ab 1986 verordneten anabolen Steroide – so gut wie nie zuvor war. Nach ihrem vierten Platz bei den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart, wo sie wegen ihrer heiteren, fröhlichen Art auch ohne Medaille zu den Publikumslieblingen gezählt hatte,  entwickelte sie sich zu den wenigen Hoffnungen der westdeutschen Leichtathletik für die Weltmeisterschaften in Rom 1987 und die Olympischen Spiele in Seoul 1988. Und noch am 4. Februar untermauerte die Olympianeunte von 1984 diese Hoffnungen, als sie in ihrem neuseeländischen Trainingslager in Auckland mit 6201 Punkten eine neue Weltbestleistung im Stunden-Siebenkampf erzielte.

Umso größer war der Schock, den der Tod der diplomierten Sportlehrerin auslöste. Die bewegenden Szenen bei der Trauerfeier auf dem Mainzer Friedhof mit 500 zumeist in Tränen aufgelösten Mitgliedern aus der Familie des Sports zeugten davon. Unter den Athleten ging die Angst um. Viele von ihnen sollen unter dem Eindruck des Todes ihrer Kollegin spontan sämtliche Medikamente die Toilette hinunter gespült haben.

Die Betroffenheit vieler Menschen in diesen Tagen war echt, nur: Bei den meisten hielt sie nicht lange. Die Medikamentenschränke waren bald wieder aufgefüllt. Wohl auch weil Funktionäre wie der damalige Chef des Bundesausschusses für Leistungssport, Helmut Meyer, eine Lesart zu etablieren versuchten, nach der Birgit Dressels Ableben kein Anabolikatod gewesen sei. So konnte die  Dopingmentalität im westdeutschen Spitzensport überleben. Und wollte ein Funktionär wie der 1988 zurückgetretene DLV-Präsident Eberhard Munzert von nun an ernsthaft gegen den Pharmabetrug vorgehen, so wurde er weggemobbt.

Dass das medizinische Gutachten zum Todesfall Birgit Dressel keine eindeutige Ursache identifizieren konnte, half an einen singulären Unglücksfall zu glauben. Kritische Selbstreflektion erübrigte sich damit, so jedenfalls dachte der Spitzensport damals. Insofern bleibt der Todesfall Birgit Dressel ein Mahnmahl und eine Verpflichtung auch für den Deutschen Olympischen Sportbund, Doping und Medikamentenmissbrauch mit allen möglichen Mitteln zu bekämpfen. In den westdeutschen Medaillenschmieden der 80er Jahre aber – die im Vergleich zum Osten ohnehin immer mehr ins Hintertreffen geraten waren – lief bald alles weiter wie gehabt.

Besonders erstaunlich aber war, wie wenig sich öffentliche Institutionen veranlasst sahen, den Todesfall einer jungen Frau als Anlass zum Einschreiten, zum Schutz wenigstens bestehender Gesetze zu nehmen. Die Mainzer Staatanwaltschaft sah keinen Anlass zu Ermittlungen wegen Körperverletzung, sondern befand, „dass selbst eine nachweisbare Gesundheitsbeschädigung durch die Einwilligung der Verletzten gerechtfertigt gewesen wäre“. Auch wegen Betrugs mochte sie nicht ermitteln, obwohl durch die Verabreichung von Mitteln, für die es keine Indikation gab, die Solidargemeinschaft der Krankenkasse unrechtmäßig beansprucht worden war.

Die Staatsanwaltschaft verneinte für den Todeszeitraum der Sportlerin sogar eine sittenwidrige Handlung bei der ärztlichen Verabreichung von Dopingmitteln. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit sei angeblich „eine eindeutige Ablehnung von leistungssteigernden Medikamenten im Sport ... nicht mit Sicherheit“ feststellbar gewesen. Allerdings hatte die Öffentlichkeit von solchen Vorgängen überhaupt keine Kenntnis. Doping fand selbstverständlich heimlich statt, nur posthum quasi behördlich „freigegeben“.

Die Staatsanwaltschaft nahm Dopingärzte rückwirkend geradezu in Schutz, in dem sie ausführte: „Zugunsten von Prof. Dr. Klümper ist nämlich nicht auszuschließen, dass er subjektiv davon ausging, die von ihm verordneten Medikamente wären zumindest auch zur Heilung und Linderung von Krankheiten zweckmäßig einzusetzen.“ Wer im Westen dopen wollte, konnte dies also ohne Rücksicht auf Verluste ungestraft tun. Er musste es nur anders, „Therapie“ etwa, nennen.

Nach Birgit Dressels Tod hätte man vielleicht annehmen können, dass die Rolle der Medizin auch intern kritischer gesehen worden wäre. Doch weit gefehlt: Noch während die einen die These vom Dopingtod dementierten, um das verbreitete Anabolikadoping zu begünstigen, wurde für nicht wenige Mediziner Handlungsbedarf deutlich: „Entweder werden Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen wirksam ausgebaut, oder man bekennt sich zur medizinisch kontrollierten Einnahme von Anabolika, um breiteren Schaden zu verhüten“ (Prof. Dr. Hartmut Krahl als Leitender Verbandsarzt des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in einem Schreiben „an die DLV-Ärzte“ am 1.7. 1988).
Daher installierte der in Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention umbenannte Deutscher Sportärztebund 1988 entgegen der Dopingbestimmungen auch ein fragwürdiges „Therapie“-Fenster, eine Art Dopingfreigabe „light“: „Die zeitlich limitierte Gabe von Anabolika zum Wiederaufbau atrophierter Muskulatur nach Immobilisierung oder langdauernden Verletzungen stellt eine therapeutische Maßnahme dar und erfüllt nicht den Tatbestand des Dopings.“ In der Praxis sah das so aus, dass bei Werfern und anderen Schwerathleten bereits eine Gewichtsreduktion nach Absetzen der muskelbildenden Mittel als Indikation für deren neuerliche Einnahme gesehen werden konnte.

Die Frage der sportmedizinischen Freiheit bei der Verabreichung von Dopingmitteln ist hochaktuell. Alleine schon in Form von massenhaft erteilten  Ausnahmegenehmigungen ist Doping – gewissermaßen „auf Lizenz“ – in manchen Disziplinen bisweilen mehr Regel denn Ausnahme geworden. Überspitzt formuliert: Würden alle Ausnahmegenehmigungen zurecht erteilt worden sein, müsste man manche Erkrankung künftig geradezu als leistungsbestimmenden Faktor in die Talentauswahl miteinbeziehen.
Die Haltung, man bräuchte bestimmte Dopingmittel zur Förderung von Konstitution oder Regeneration, ist bisweilen heute noch zu vernehmen, auch aus dem Kreis deutscher Verbandsärzte. Und dass Ärzte bisweilen dopen, um so genannte eigenmächtige Dosierungen zu verhindern, ist wohl nicht nur ein Phänomen aus dunkler Vergangenheit. Seit nunmehr 20 Jahren aber wird dabei vollkommen ausgeblendet, dass Birgit Dressel nicht Opfer eigenmächtigen Dopings oder Medikamentenmissbrauchs wurde. Sie war gerade unter ärztlicher Aufsicht mit Medikamenten vollgepumpt worden. Sie starb nicht an zu wenig ärztlicher Zuwendung – sondern an zu viel.

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