„Die gemeinschaftsstiftende Wirkung eines Trikots ist extrem groß“
Prof. Dr. Ansgar Thiel (61), Rektor der Deutschen Sporthochschule (DSHS) Köln, spricht mit Michaela Röhrbein (50), Vorständin Sportentwicklung im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), über die Bedeutung von Sport für die Gesellschaft und das Zeichen, das der Trikottag am 20. Mai aussenden kann.

18.03.2025

DOSB: Wir im organisierten Sport sprechen gern von den positiven Aspekten, die der Sport für die Gesellschaft haben kann. Welche drei sehen Sie als Sportsoziologe als die wichtigsten an, Herr Thiel?
Ansgar Thiel: Das kommt selbstverständlich auf die Perspektive an, aus der man schaut. Für mich steht die soziale Integration obenan, und zwar nicht nur die von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern aller Menschen in einer Gesellschaft, die sich immer weiter diversifiziert. Dann die Gesunderhaltung, die sich nicht nur auf den Gesundheitssport im Speziellen, sondern auf den gesamten Sport erstreckt. Auch im Wettkampfsport wird das psychische Wohlbefinden massiv erhöht, die Wirkungen des gesamten Sportbereichs sind nachgewiesen und unbestreitbar. Und zuletzt, aber ebenso wichtig: Sinnstiftung. Im Sport kann man gleichermaßen Halt und Erfüllung durch Hingabe erleben. Damit kann der Sport dazu beitragen, dass Menschen zu sich selbst finden.
Michaela Röhrbein: Ich würde gern zwei Bereiche ergänzen. Der eine ist der Aspekt der Bildung. Vereinssport ist der größte nonformale Bildungsanbieter in Deutschland. Sportvereine bieten niedrigschwellige Bildungsangebote für Menschen jeden Alters und sozialen Hintergrunds und leisten damit einen entscheidenden Beitrag zum lebenslangen Kompetenzerwerb. Und wir lernen im Sport nicht nur die für ihn notwendigen Bewegungsabläufe, sondern auch Persönlichkeitsentwicklung, den Umgang miteinander und mit Sieg und Niederlage umzugehen, es werden Werte wie Leistung, Disziplin und Fairplay vermittelt, die in der Gesellschaft von großer Bedeutung sind. Das wichtigste Element ist für mich aber die Lebensfreude und die damit zusammenhängende Zufriedenheit, die durch Sporttreiben wachsen können.
Worin besteht der größte Wert, den man dem Sport beimessen kann?
Thiel: Ich tue mich schwer damit zu bewerten, was am wichtigsten ist. Bildung ist von zentraler Bedeutung, insbesondere in einer sich ständig verändernden Gesellschaft. Gesunderhaltung und das Erbringen von Leistung kann man sicherlich auf derselben Ebene danebenstellen. Für manche Menschen ist Harmonie, die im Sport erlebt werden kann, elementar, für andere, dass der Sport ihnen den Alltag strukturiert. Mir persönlich gibt es beispielsweise Struktur, jeden Tag morgens um 6.00 Uhr aufzustehen, um Sport zu treiben. Das ist also von Individuum zu Individuum unterschiedlich.
Röhrbein: Ich würde das mit einer Gegenfrage beantworten: Gibt es einen Wert, den wir im Sport nicht schaffen können? Meine Antwort darauf lautet: nein. Unser „Why“ im DOSB heißt: „Wir bewegen den Sport. Weil Sport alle(s) bewegen kann.“ Aber ich stimme zu, dass die Bewertung, welches der größte Wert ist, von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist.
Welche Funktionen übernimmt ein Sportverein heutzutage in der Gesellschaft, und wie haben diese sich im Vergleich zu früher verändert?
Röhrbein: Sportvereine sind nach wie vor der Gesundheitsanbieter Nummer eins in Deutschland. Und es ist Gott sei Dank nach wie vor so, dass in den Sportvereinen Gesellschaft und Gesellschaft durch Sportvereine gestaltet wird. Sie bieten einen niedrigschwelligen Zugang für Menschen aus allen sozialen Schichten und ermöglichen gelebte Integration in ihrer ganzen Vielfalt. Hier kann Selbstwirksamkeit erfahren werden, und basisdemokratische Prozesse werden unmittelbar erlebbar - sei es die Wahl einer Mannschaftskapitänin oder eines Vereinsvorstands. Der Sport kann auch Vorbild für andere gesellschaftliche Bereiche sein. Zum Beispiel haben wir mit dem Safe Sport Code als erste zivilgesellschaftliche Organisation ein Regelwerk zur Bekämpfung von interpersonaler Gewalt unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorgelegt. Ich möchte mir eine Gesellschaft ohne Sportvereine nicht vorstellen.
Thiel: Warum gibt es Sportvereine überhaupt? Damit gesichert ist, dass ein wichtiges Bedürfnis der Menschen, nämlich sich gemeinsam mit anderen sportlich zu betätigen, auch befriedigt werden kann. Wären Sportangebote dem Markt ausgeliefert, wäre nicht auszuschließen, dass sie entweder nur einer exklusiven Gruppe zugänglich wären, die es sich leisten kann, oder dass die Angebote, wenn sie sich wirtschaftlich nicht lohnen, wegen fehlender wirtschaftlicher Rentabilität gestrichen würden. Der Sportverein hat also auch die Funktion, Bedarfe von Menschen zu decken, die sich von allein nicht unbedingt tragen würden.
Stichwort Safe Sport Code: Wir erleben immer wieder, dass es im Sport Vorfälle von Gewalt oder Betrug gibt, die seine Integrität bedrohen. Welches sind die größten Gefahren für die Pluralität und Integrität des Sports?
Thiel: Lassen Sie mich zunächst das Positive betonen: Sportvereine sind grundsätzlich sehr stabile Organisationen, deren Vorteil es ist, dass sie autonom handeln können, auch wenn es monetär durchaus Abhängigkeiten gibt. Es gab und gibt immer wieder Versuche aus der Politik oder aus der Wirtschaft, Vereine zu instrumentalisieren, aber die Organisation Sportverein ist durchaus resilient.
Röhrbein: Wir sehen aber, dass in anderen, autoritär geprägten Strukturen der Sport stark instrumentalisiert wird. Umso wichtiger ist es, für eine stabile Demokratie einzustehen, denn diese ermöglicht uns unser Sportsystem in seiner aktuellen Ausprägung.
Thiel: Sportvereine sind eine Art letzte Bastion der Basisdemokratie. Auch hier kommen Fehlhandlungen vor, aber die allermeisten Entscheidungen werden von der Basis oder deren Repräsentanten getroffen. Das ist ein wichtiges Strukturmerkmal.

Röhrbein: Wir verstehen uns im Sport als parteipolitisch neutral, aber nicht als gesellschaftspolitisch neutral. Damit das gewahrt bleibt und Menschen, die gegen den Wertekodex verstoßen, sanktioniert werden können, ist es unerlässlich, dass Sportvereine sich wehrhaft aufstellen und ihre Satzung immer wieder aktualisieren. Wir haben dazu kürzlich ein Gutachten und eine Praxis-Handreichung zum Thema „Vereinsschädigendes Verhalten“ herausgegeben, um Hilfestellung zu leisten.
Thiel: Volle Zustimmung! Der organisierte Sport hat sich qua Satzung und Verfassung Werten verschrieben, die eingehalten werden müssen. Das muss man sich aber immer wieder aufs Neue bewusst machen. Nicht nur eine Unterwanderung durch politische Extreme ist eine Gefahr, sondern auch Ideen, Vereine wie Wirtschaftsunternehmen zu steuern und damit Basisentscheidungen zu vermeiden. Der Weg, Vereine zu Wirtschaftsunternehmen zu machen, ist nicht mit dem Grundverständnis einer freiwilligen Vereinigung vereinbar.
Röhrbein: Wobei ich durchaus wahrnehme, dass Großsportvereine das Spannungsverhältnis zwischen Mitgliederrechten, ehrenamtlichen Engagement und Dienstleistung gut hinbekommen. Insbesondere innovative Vereine mit eigenen Liegenschaften profitieren davon, dass sie nicht unter dem Sanierungsstau in der öffentlichen Infrastruktur leiden, der ein großes Problem darstellt und mittlerweile auf mindestens 31 Milliarden Euro angewachsen ist.
Thiel: Natürlich. Der Wille, mit dem Sport im Verein soziale Leistungen zu erfüllen, widerspricht nicht der Tatsache, wirtschaftlich zu denken. Aber es geht dabei eben nicht um Gewinnmaximierung durch den Verkauf von Angeboten, sondern um einen reflektierten Umgang mit zur Verfügung stehenden Ressourcen. Aufgrund der hohen Abhängigkeit von freiwilligen Leistungen der Mitglieder braucht es hier durchaus Kreativität. Und es müssen immer wieder neue, für die Mitglieder attraktive Angebote bereitgestellt werden. Es kann aber nicht darum gehen, in Konkurrenz mit kommerziellen Anbietern zu treten. Wie gesagt: Für Vereine müssen die Bedarfe der Mitglieder die entscheidende Richtschnur sein, nicht Marktpotenziale.
Röhrbein: Ich finde, dass sich hier die Resilienz gut zeigt, die Sportvereine gegenüber Bedrohungen von außen entwickelt haben. Sie sind Innovationsmotoren, weil sie sich schnell anpassen und umstellen können. Das haben wir zum Beispiel während der Corona-Pandemie gesehen, als sehr schnell digitale Angebote gemacht oder Sportkurse im Freien angeboten wurden.
Thiel: Tatsächlich sind vor allem größere Vereine hier sehr schnell, weil sie nicht wie Wirtschaftsunternehmen jedes Angebot durchkalkulieren müssen, sondern sich auf der Ebene der Angebotsstruktur schnell anpassen können.
Weil Sie die Pandemie ansprachen: Welche Lehren hat der Sport daraus gezogen, und sind diese auch in der Gesellschaft angekommen?
Röhrbein: Eine der wichtigsten Lehren war, dass Menschen gern gemeinsam Sport treiben und sich ihre Bewegungsräume erschließen, wenn sie dazu gezwungen sind. Das erfordert höhere Flexibilität und größere Kreativität in den Sportvereinen, die ich aber auch wahrnehme. Dass die Erschließung neuer Bewegungsräume aber manches Mal auch zu Konflikten führt, wie zum Beispiel mit dem Grünflächenamt oder bei der Forderung einer „Waldmaut“ für Sporttreibende in privaten Naturgebieten, gehört zu den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.
Thiel: Ich finde auch, dass sich der organisierte Sport sehr gut auf die neuen Begebenheiten eingestellt hat. Aber obwohl das geschehen ist und wir aus wissenschaftlicher Sicht nachweisen können, welche positiven Effekte der Sport hat und welche negativen Einflüsse manche Einschränkungen in der Pandemie gehabt haben, hat die Politik auf die gesellschaftliche Relevanz des Sports noch immer nicht adäquat reagiert. Wir haben ja nicht nur mehr als 28 Millionen Mitglieder in Sportvereinen in Deutschland, sondern dazu rund weitere zwölf Millionen Menschen, die sich außerhalb des Vereins sportlich betätigen oder zumindest regelmäßig bewegen. Da verwundert es, warum der Sport noch immer so stiefmütterlich behandelt und so wenig beachtet wird. Als Beispiel möchte ich den Bewegungsgipfel anführen, den Innenministerin Nancy Faeser und Gesundheitsminister Karl Lauterbach während der Pandemie initiiert hatten. Daraus sollte der Entwicklungsplan Sport - über alle Ebenen Bund, Land, Kommune hinweg - resultieren, umgesetzt wurde er so leider nicht. In die Erarbeitung der letzten Fassung des Bundes war der organisierte Sport nicht mehr eingebunden.
Daraus folgt tatsächlich die Frage nach dem Warum. Warum hat der Sport in Deutschland trotz seiner enormen Zahl an Mitgliedern keine Lobby?
Röhrbein: Diese Frage gehen wir mit geballter Kraft an. Wir haben ein so unglaublich wertvolles und einzigartiges Angebot für die Politik und Gesellschaft. Selbst die volkswirtschaftlichen Werte des Sports und seine Leistungen für die Gesellschaft sind bewiesen, dazu gibt es eine Vielzahl an Studien und Publikationen. Im politischen Handeln geht es aber leider oft um Kurzfristigkeit, und dann stehen Pflichtaufgaben in anderen Bereichen der Gesellschaft vornean und der Sport muss zurückstecken, so wie wir es in den aktuellen Koalitionsverhandlungen ja erneut sehen. Aber wir bleiben hartnäckig dran und stellen immer wieder den Fuß in die Tür. Denn es ist im Sport wie mit der Infrastruktur: Kurzfristig wirkt alles stabil, aber eine Brücke stürzt langfristig ein, wenn man nicht stetig in ihre Instandhaltung investiert.
Thiel: Dazu kommt, dass der Sport in Deutschland, vom Fußball abgesehen, eine eher geringe Sichtbarkeit und Wertschätzung hat. In vielen anderen Ländern hat der Sport kulturell eine höhere Bedeutung. In Deutschland wird er als nicht-geistige Tätigkeit abgewertet und genießt offenbar nicht die gleiche kulturelle Wertschätzung wie beispielsweise die Hochkultur. Eine Ausnahme bildet der Spitzensport, und hier insbesondere der Fußball, in dessen Glanz sich manch Politiker*in gern sonnt. Aber für den Breitensport als Handlungszusammenhang, der die gesamte Gesellschaft umgreift, gibt es nicht die Wertschätzung, die er verdienen würde.
Röhrbein: Deshalb lautet eine der zehn Forderungen, die der DOSB an die Bundespolitik gestellt hat, eine Bundesmilliarde für Infrastruktur - und Infrastruktur ist hier breit gemeint: Investitionen in Sportstätten, aber auch in Qualifizierung von Trainer*innen und in die Digitalisierung zur Unterstützung der Vereinsstruktur. Und die zweite Forderung ist, eine Staatsministerin oder einen Staatsminister für den Sport im Bundeskanzleramt zu implementieren und damit den Sport zentral in der Politik zu verankern, damit er als Querschnittsthema wahrgenommen und behandelt wird.

Würden Sie der Aussage zustimmen, dass Sport die letzte Bastion ist, die einer breiten Masse der Gesellschaft unsere Grundwerte vermitteln kann?
Thiel: ‘Letzte Bastion’ ist mir in diesem Zusammenhang ein wenig zu extrem. Unsere Werte werden durch Bildung, Medien, Gesetze und den öffentlichen Diskurs vermittelt und durch soziale Normen sowie zivilgesellschaftliches Engagement gefestigt. Wir leben in einem freien Land, in dem man seine Meinung frei äußern darf, selbst wenn es die Meinung ist, dass man nichts mehr sagen dürfe. Die Vermittlung von Grundwerten einer offenen Gesellschaft gibt es also zum Glück in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen, nicht nur dem Sport. Aber eine so große Organisation wie der Vereinssport hat ein großes Verbreitungspotenzial, und in Bezug auf Basisdemokratie als Strukturprinzip ist der organisierte Sport vielleicht wirklich eine der letzten Bastionen.
Röhrbein: Ich spreche gern vom Vereinssport als Tragwerk unserer demokratischen Gesellschaft, mir fällt kein anderer Bereich ein, der so viel leistet. Wir ragen tief in die Gesellschaft hinein.
Dem Sport wird allgemein zugeschrieben, dass er vielfältige positive Beiträge in zahlreichen Bereichen des gemeinsamen Lebens erbringt. Wie bewahrt er sich dieses Image?
Thiel: In dieser Frage halte ich es für wichtig, den Breitensport gesondert vom Spitzensport zu betrachten. Der Spitzensport hat sicher auch viele positive Wirkungen für die Gemeinschaft, wie die Förderung eines Zusammengehörigkeitsgefühls oder die Schaffung von Ausgleich, Spannung und Unterhaltung in einer doch häufig eintönigen Alltagswelt. Aber es gibt halt auch viele negative Auswüchse im Spitzensport. Doch auch wenn der Spitzensport das meiste Geld bewegt und die größte Aufmerksamkeit erhält, ist der Breitensport viel wichtiger für die Gesellschaft. Eine Vielzahl von Menschen sind tagtäglich im Sport freiwillig und ehrenamtlich für andere tätig, indem sie Training geben, Ämter übernehmen, Jugendarbeit machen oder als Eltern Fahrdienste für Nachwuchsmannschaften leisten. Dies sind enorme, für die Gesellschaft unheimlich wichtige, positive Ressourcen an unentgeltlicher Leistung, die erbracht werden. Dazu kommen die gesundheitsfördernden und sozial integrativen Effekte des Breitensports - all dies lässt den Sport insgesamt in einem sehr positiven Licht erscheinen.
Röhrbein: Zudem hat sich der Sport in den vergangenen Jahren zunehmend als treibende Kraft für nachhaltige Entwicklung etabliert. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Integration von ökologischen und sozialen Zielen, wie es beispielsweise auch bei großen Sportveranstaltungen der Fall ist. Sport fördert nicht nur Werte wie Fairplay, Toleranz und gesellschaftliche Integration, sondern kann auch aktiv zur Umwelt- und Klimafreundlichkeit beitragen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das Projekt „Nachhaltige Sport(groß)veranstaltungen in Deutschland“, das durch praxisorientierte Handlungsempfehlungen und Mindeststandards für Sportveranstalter ein nachhaltiges Vorgehen unterstützt. Wir haben erst kürzlich das kostenfreie interaktive Internet-Tool „nachhaltige-sportveranstaltungen“ gelauncht. Dieses bietet Sportveranstaltern - ob für Großevents oder lokale Sportfeste - praxisnahe Lösungen, um Veranstaltungen nachhaltiger zu gestalten.
Wie gelingt es künftig, Themen wie die tägliche Sportstunde an Kitas und Schulen oder generell mehr Bewegung im Alltag noch mehr in den Fokus zu rücken?
Thiel: Ehrlich gesagt wird darüber geredet, seit ich in der Sportwissenschaft tätig bin, und wahrscheinlich noch länger. Wichtig ist, dass wir die Forderung nach täglichem Bewegen in der Schule getrennt vom Sportunterricht betrachten. Sportunterricht ist ein Bildungsfach, das ich neben Deutsch und Mathe für das wichtigste Fach an der Schule halte. Ich lerne im Sportunterricht nicht nur sportartspezifische Bewegungen, ich lerne auch, wie Trainingsprozesse funktionieren, wie sich mein Körper an Belastungen anpasst, wie ich meinen Körper durch Training verändern kann. Man kann aber in den Sportunterricht am praktischen Beispiel auch Inhalte aus den Naturwissenschaften vermitteln oder Demokratieförderung und politische Bildung zum Thema machen. Daneben stellt sich die Herausforderung, wie wir den grassierenden Bewegungsmangel beheben, um schwerwiegenden chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Schäden entgegenzuwirken. Dies kann nicht die Aufgabe des Sportunterrichts allein sein. Wir müssen vielmehr darüber hinaus fragen: Wie machen wir Schulen zu bewegten Schulen? Wie gestalten wir bewegte Pausen? Wie können Kinder und Jugendliche in Bewegung lernen anstatt immer nur sitzend? Wie integrieren wir Bewegung in den Ganztag? Hier setzt die Idee der täglichen Bewegungsstunde an, die aber weiterentwickelt werden muss. Um diese Problematik müssen sich die Kultusministerien verstärkt kümmern, und alle Player im Sport müssen die Forderung „Bewegung für alle“ noch viel lautstärker propagieren.
Röhrbein: Volle Zustimmung! Sport regt zudem auch die geistige Aktivität an - besonders wichtig in jungen Jahren, wenn sich das Gehirn noch entwickelt. Deshalb halte ich es für essenziell, Bewegung schon in Kitas zu verankern und Alltagsräume so zu gestalten, dass sie zur aktiven Bewegung einladen. Wenn es uns gelingt, mehr multifunktionale Bewegungsräume zu schaffen, die Menschen im Alltag spielerisch zur Bewegung motivieren, wären wir einen großen Schritt weiter.
Lust auf Bewegung ist in Sportvereinen Alltag, aber auch darum gilt es immer wieder zu kämpfen. Am 20. Mai feiern wir den dritten Trikottag in Sportdeutschland. Das Motto lautet „In den Farben getrennt, in der Sache vereint“. Gilt das heute noch im Sport?
Röhrbein: Uneingeschränkt ja! Der Sportsgeist lebt genau von diesem Gedanken. Ob bei Kinder- und Jugendturnieren, in Amateurligen oder bei großen Breitensportveranstaltungen - überall erleben wir ein Miteinander über Vereinsgrenzen hinweg. Beim Marathon feuern sich Fremde gegenseitig an, nach hart umkämpften Spielen klatscht man sich mit der Konkurrenz ab und feiert gemeinsam. Natürlich gibt es Herausforderungen, etwa hitzige Emotionen im Wettkampf oder vereinzelte negative Beispiele wie Risikospiele im Fußball. Aber an der Basis zeigt sich der Sport vor allem als verbindendes Element, das Gemeinschaft schafft, Brücken baut und Menschen zusammenbringt - unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Alter. Dieses Prinzip ist tief in der Sportkultur verankert und wird täglich aufs Neue gelebt.
Thiel: Dass sich die Gesellschaft immer weiter diversifiziert, unterstreicht, dass es an gemeinschaftsstiftenden Elementen fehlt. Diese bietet der Sport, und der Trikottag ermöglicht, dass Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen über Symbole wie unterschiedliche Trikotfarben oder Vereinswappen gelebt und gezeigt werden kann. Die gemeinschaftsstiftende Wirkung eines Trikots ist extrem groß. Ich ziehe nicht etwas an, was mir persönlich gefällt, sondern das, was mich zum Teil einer Gemeinschaft werden lässt.
Röhrbein: Außerdem bietet der Trikottag die Chance, meinen Verein außerhalb seiner kleinen Bubble sichtbar zu machen. Deshalb hoffen wir im DOSB sehr, dass sich ganz viele unserer Mitglieder daran beteiligen.
Wir halten fest, dass der Sport in Deutschland in der Sache vereint ist. Aber wenn wir uns die Weltlage anschauen, müssen wir befürchten, dass Sport wieder vermehrt für Propagandazwecke missbraucht werden könnte. Wie bleiben wir resilient dagegen?
Thiel: Sport steht - und stand schon immer - in der Gefahr, missbraucht zu werden. Aber er hat eine ganze Reihe an Selbstreinigungsmechanismen, die man nicht unterschätzen darf. Deshalb ist mir nicht bange, wenn wir unsere Kontrollinstanzen hochhalten.
Röhrbein: Je stärker die Zahl der menschenrechtsbasierten, liberalen Demokratien auf der Welt abnimmt, desto stärker wird der wertebasierte Sport für propagandistische Zwecke genutzt. Aus diesem Grund ist es auch für den Sport so wichtig, die Demokratie im eigenen Land zu schützen und zu stärken, damit der Sport hier so bleibt, wie wir ihn lieben. Das Engagement für die Demokratie ist auch eine Rolle der streitbaren Zivilgesellschaft, zu der der Sport gehört. Er ist mehr als nur Bewegung, er ist wertebasiert. Und wir werden gemeinsam alles tun, damit das so bleibt.