Der Aha-Effekt beim Sport
Interview mit Wolfgang Tenhagen, Vorsitzender des Behindertensportverbandes Schleswig-Holstein und Bundesbeauftragter im Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS) für das Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung

31.05.2011
Seit 1995 ist Wolfgang Tenhagen als Bundesbeauftragter für das Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung im Amt. Der Posten ist beim Deutschen Behinderten-Sportverband angesiedelt. Alle Entscheidungen und Aktivitäten zum Thema Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung laufen über seinen Tisch.
Er ist direkter Ansprechpartner für Fragen rund um Ausbildung und Lehre der Prüfer, die das Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung abnehmen dürfen. Außerdem ist er in die Reformen und Veränderungen beim Sportabzeichen eingebunden und regt selbst neue Konzepte an, wie z.B. beim Sportabzeichen für Menschen mit geistiger Behinderung. Dieses wurde erst vor 10 Jahren auf Initiative von Wolfgang Tenhagen und in Zusammenarbeit mit der Uni Kiel und Prof. Dr. Manfred Wegner eingeführt. Und nicht zuletzt ist er Ansprechpartner für alle Sportvereine in Deutschland, die Fragen zum Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung haben.
Herr Tenhagen, Sie waren bei der Sportabzeichen-Tour in Olpe dabei. Welche Erlebnisse und Eindrücke sind Ihnen im Gedächtnis geblieben?
Sehr positiv überrascht war ich von der lockeren Atmosphäre zwischen Kindern mit und ohne Behinderung. Die rund 90 Kinder mit Handicap sind vollständig in der Menge der anderen über Tausend Kinder aufgegangen, keiner wurde isoliert oder ausgegrenzt. Die behinderten Kinder haben ihr Sportabzeichen nicht separat abgelegt, sondern gemeinsam mit den anderen. Wenn die ihren 50-Meter-Sprint im Rolli gemacht haben, wurden sie von den Zuschauern genauso angefeuert wie die anderen, die vorher gelaufen sind. Und beim Rolli-Parcours gab es dann sogar vertauschte Rollen, da konnten Kinder ohne Behinderung ausprobieren, wie es ist, mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein. Sie haben dabei schnell gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, voranzukommen oder die Kurve zu nehmen. Diese Lockerheit zwischen den Kindern, das war wirklich ein schönes Erlebnis.
Olpe hat gezeigt, dass gemeinsame Veranstaltungen die gemeinsame Sache stark voran bringen. Sollten DOSB und DBS nicht einmal versuchen, stärker zusammen mit Veranstaltungen für das Sportabzeichen voran zu gehen?
Ja, das sehe ich so. Wenn der DOSB und der DBS diesen Aspekt bei ihrer Planung berücksichtigen und miteinander absprechen, dann können wir alle nur davon profitieren. Es ist ja viel die Rede von Inklusion, von gemeinsamen Sport treiben und das Sportabzeichen liefert hier die Möglichkeit dafür, Veranstaltungen gemeinsam auszurichten. Natürlich muss man in jedem Einzelfall abwägen, ob die Sportstätten auch die nötigen behindertengerechten Rahmenbedingungen bieten. Aber das ist eine Frage der Organisation. Bei einzelnen Stationen der Sportabzeichen-Tour, bei denen eine Kooperation geht und der lokale Veranstalter es will, sollte man die Veranstaltung auch zusammen machen.
Ganz kurz vielleicht zur Geschichte des Sportabzeichens für Menschen mit Behinderung: Wie lange gibt es das schon, wann wurde es eingeführt?
Das Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung ist nach der Gründung des Deutschen Behindersportverbandes 1952 eingeführt worden. Der Impuls ging von den vielen Kriegsversehrten aus, die es damals nach dem zweiten Weltkrieg gab. Sie wollten trotz ihrer Amputationen oder anderen Verletzungen Sport treiben. Daraus sind viele Sportabzeichentreffs entstanden, die bis heute existieren. 1952 hat der Bundespräsident dann festgeschrieben, dass der Fitnessorden unter veränderten Prüfungsbedingungen auch an Menschen mit körperlicher Behinderung verliehen wird. Das Sportabzeichen für Menschen mit geistiger Behinderung gibt es erst sehr viel kürzer, nämlich seit dem Jahr 2000.
Warum ist das „Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung“ ein wichtiger Baustein hin zu mehr Integration bzw. Inklusion?
Das Sportabzeichen bietet alle Möglichkeiten, um gemeinsam Sport zu treiben. Egal ob mit oder ohne Behinderung, die Bedingungen sind für alle gleich, auch wenn die vorgegebenen Normen sich unterscheiden. Das Sportabzeichen schreibt vor, dass Schnelligkeit, Ausdauer, Schnellkraft, Sprungkraft und allgemeine Schwimmfähigkeit geprüft werden. Das heißt, alle können gemeinsam zum Schwimmen gehen und während der gesunde z.B. seine 200 Meter schwimmt, sind es beim Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung dann je nach Behinderungsklasse entsprechend weniger.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass der DOSB und der DBS gemeinsam zu solchen Veranstaltungen einladen wie hier in Olpe?
Hat Sport für Menschen mit Behinderung eine andere Bedeutung als für solche ohne Handicap?
Sport ist für Menschen mit Behinderung eine Bestätigung, was sie noch leisten können, u.a. beim Sportabzeichen. Da gibt es ganz oft diesen Aha-Effekt, dass man trotz einer künstlichen Hüfte oder einer Prothese noch Sport treiben kann und man sieht, was man sich noch zumuten darf. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt.
Stichwort Anforderungen: Ist es eigentlich schwer für Menschen mit Handicap, das Sportabzeichen zu schaffen? Wie hart sind die Bedingungen?
Nein, wenn man vorher trainiert, dann sehe ich keine Probleme, die Prüfungen zu schaffen und die Anforderungen zu erfüllen. Natürlich soll das Sportabzeichen auch ein Nachweis über die sportliche Leistungsfähigkeit sein, deshalb haben Sportwissenschaftler und Biomechaniker ganz genau errechnet, wie und wo die einzelnen Normen festgelegt werden. Die Prüfungen für das Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung sind also so ausgelegt, dass von 100 Sportlern, die sich daran versuchen, 70 es schaffen und 30 nicht. Das ist dieselbe Relation wie beim Sportabzeichen ohne Handicap.
Prüfer, die das Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung abnehmen wollen, brauchen eine besondere Schulung. Weshalb sind die Vorgaben so kompliziert? Welche Voraussetzungen muss man mitbringen?
Im Prinzip kann jeder die Prüflizenz für das Sportabzeichen mit Behinderung erwerben. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man schon weiß, wie man die Stoppuhr bedient und wie man das Maßband anlegen muss, da kann man nämlich auch viele Fehler machen. Das wichtigste beim Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung ist aber die Fähigkeit, klassifizieren zu können. Dafür gibt es ein Ringbuch, wo alle Vorgaben festgehalten sind. Schwierig wird es immer dann, wenn jemand mit einer Mehrfachbehinderung kommt, der sein Sportabzeichen ablegen will. Nehmen wir z.B. den Fall, dass jemand den linken Arm und das rechte Bein amputiert hat. Da muss der Prüfer einfach wissen, dass verschiedene Behinderungsklassen für die einzelnen Disziplinen greifen und sie auch anwenden können.
Wieso engagieren Sie sich so stark für den Behindertensport? Was ist Ihre Motivation?
Ich selbst habe im Alter von 2 Jahren Polio, also Kinderlähmung gehabt. Ich hatte aber das Glück, dass ich einen Lehrer hatte, der mich trotz Behinderung zum Sporttreiben motiviert hat, meine ganze Familie war sportlich. Ende der 60er Jahre habe ich dann mit Kegeln angefangen, wollte aber später auch mal etwas anderes ausprobieren, nämlich die Leichtathletik. Meine sportliche Karriere hat eigentlich mit dem Sportabzeichen angefangen. Ich hatte von Anfang an ein besonderes Talent für den Hochsprung und habe schließlich 20 Jahre Leistungssport in diesem Bereich betrieben. Die Begeisterung für den Sport und der Spaß dabei, das hat mich immer bewegt und ist bis heute mein Motor.
Herr Tenhagen, vielen Dank!