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Den Werten des Sports verpflichtet bleiben

Peter Tauber, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung, beschreibt zum Volkstrauertag die Erinnerungskultur der Turn- und Sportvereine.

DOSB Redaktion
DOSB Redaktion

18.11.2018

Vor gut 100 Jahren, nach dem verlorenen Weltkrieg, musste Deutschland sich nach Revolution und Niederlage nicht nur eine neue politische Ordnung geben, sondern auch gesellschaftliche Gruppen zogen Bilanz. Darunter die wichtigen Turn- und Sportvereine. Mit Blick auf die gefallenen Soldaten aus den Reihen des Sports schrieb die Mitteldeutsche Sportzeitung: „Welche Tragik spricht aus diesen Zahlen! An diesen Zahlen sind die Turn- und Sportvereine prozentual am meisten beteiligt.“

In der Tat: Ganze Fußballmannschaften waren freiwillig in den Krieg gezogen und dann auch gemeinsam im Granatfeuer oder im englischen Giftgas an der Westfront gefallen. Turner und Sportler waren begeistert 1914 zu den Fahnen geeilt. Ihre Einsatzbereitschaft stellte den Sport in den Dienst der Politik.  So war nicht nur die Trauer angesichts der hohen Zahl an Toten groß. Es galt auch, diese Opfer zu legitimieren und nach der Niederlage zu erklären. Während wir heute eine kritische Haltung zur Instrumentalisierung des Sports für die damaligen politischen Zwecke einnehmen, gelang es den Sportverbänden damals nicht, sich zu hinterfragen und zu distanzieren. Das Gegenteil war der Fall: Oft wurde der Tod überhöht, um sich nicht die Sinnlosigkeit des Krieges und des massenhaften Sterbens eingestehen zu müssen.

Vor 100 Jahren und auch noch in den Weimarer Jahren – von der Epoche des Nationalsozialismus ganz zu schweigen – galt es, sportliches Ringen und die Kriegsbereitschaft in eine Analogie zu setzen, die den für uns heute tragenden Werten des Sports wie Völkerverständigung, Fairplay und Integration sowie Vielfalt widerspricht. Umso wichtiger ist es, dass wir auch heute aufzeigen, welche Bedeutung und Rolle der Sport in einer Gesellschaft hat, und dass er und seine Organisationsstrukturen meist „staatstragend“ agieren – sowohl in der Demokratie als auch in der Diktatur. Der Sport kann sich aber auch nicht auf sich selbst zurückziehen. Dazu ist seine Wirkungskraft zu hoch. Noch ein Grund mehr, sich mit dem Gedenken an die Toten des Krieges in Vereinen und Sportverbänden zu befassen.

Es war der alte General des Kaisers, August von Mackensen, der den Krieg in einer Rede als „welterschütternde Olympiade“ bezeichnete und damit eine Analogie zwischen dem friedlichen Wettstreit auf den Sportplätzen und dem blutigen Ringen auf dem Schlachtfeld herstellte. Die Deutsche Turn-Zeitung ging weiter und leitete aus der Bilanz des Krieges die Aufgabe für die Zukunft ab: „Der Weltkrieg hat für Deutschland ein Ende mit Schrecken genommen. Trotzdem dürfen wir nicht verzagen. Wir Turner (…) haben nur eine Aufgabe: festen Blickes in die Zukunft zu schauen und (...) durch ernste Arbeit an der Jugend mitzuwirken am Wiederaufbau des zertrümmerten und doch so lebensstarken Vaterlandes. Die Deutsche Turnerschaft muss sich auch in diesem Sturme, der unser Vaterland durchbebt, als das feste Band beweisen, das die Deutschen einig und fest zusammenhält, ohne in die politischen Parteibestrebungen einzugreifen.“

Nicht nur in der Rückschau mussten Vereine und Sportverbände sich also zum Kriegsausgang und dem Tod der Soldaten verhalten, sondern auch weil der Sport zu der Massenbewegung der 1920er Jahre wurde. Angesichts der Bedeutung des Ersten Weltkrieges und der Niederlage für das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft in der Weimarer Republik ging das gar nicht anders. Aufgrund der unglaublichen Dynamik, mit der sich die Vereine und Verbände nach Kriegsende entwickelten, der Schnelligkeit, mit der ein intensiver Übungs- und Wettkampfbetrieb wieder auflebte und neue Mitglieder in die Vereine integriert wurden, richtete sich der Blick der Funktionäre und Mitglieder zwar zwangsläufig nach vorne in die Zukunft, Identität und Selbstverständnis bezog man aber nach wie vor aus der Vergangenheit. So entwickelten die Turn- und Sportvereine eine selbstständige Erinnerungskultur, die der eigenen gesellschaftlichen Standortbestimmung dienen sollte und in deren Mittelpunkt die Leistung der Vereine während des Krieges sowie das Opfer der gefallenen Turn- und Sportvereinsmitglieder rückten. Dies diente zum einen der symbolischen Erinnerung an die Kriegsleistung der Turn- und Sportbewegung insgesamt, zum andern war man bemüht, das Handeln der Turner und Sportler in punkto Opferbereitschaft und Gemeinschaftssinn als vorbildlich, über die Sportbewegung hinaus, für die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung und als Antwort auf die Krisenerscheinungen der Zeit darzustellen.

Der Toten zu gedenken war überall in Europa üblich, und die Form der Totenehrung erfuhr eine oft regional unterschiedliche Prägung. Die Erinnerung an die Toten wirkte dabei nicht zwingend verbindend oder Gemeinschaft stiftend, sondern vor allem in Deutschland entzweiend und polarisierend. Allenfalls innerhalb sozialer Milieus konnte das Gedenken der Toten als Selbstvergewisserung über die dargebrachten Opfer den Zusammenhalt stärken. Für die Turn- und Sportvereine war eine entsprechende Wirkung für das Selbstverständnis und die ideologische Positionierung des Sports zu erkennen. Daraus erwuchs jedoch kein Beitrag zu einem allgemein gültigen und auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens fußenden Sinngehalt der Kriegserinnerung, aus der Gemeinsamkeiten oder gar ein positives Verhältnis zum neuen Staat wachsen konnte. Auch eine Thematisierung der gefallenen Soldaten als Opfer des Krieges fand nur in seltenen Fällen statt.

Welch hohen Stellenwert das Totengedenken unmittelbar nach Kriegsende in der Turn- und Sportbewegung einnahm, wurde beispielsweise dadurch deutlich, dass die Ehrung der gefallenen Turner und Sportler im Rahmen sportlicher Wettkämpfe stattfand. Neu war, dass nun Sportwettkämpfe zu Ehren der Gefallenen veranstaltet wurden. Die Turn- und Sportbewegung reihte sich dabei nahtlos in eine Entwicklung ein, die Wolfram Wette als „politischen Totenkult“ bezeichnet hat, der vor allem dazu diente, „dem Massensterben der Vergangenheit einen Sinn abzugewinnen.“ So gelang es, die Erinnerung an die Toten und den Krieg in den Reihen der Turn- und Sportvereine entsprechend zu prägen und inhaltlich aufzuladen. In nahezu allen Städten und Gemeinden entstanden Kriegerdenkmäler und Gedächtnistafeln in großer Zahl. Neben den Veteranenverbänden bemühten sich staatliche Institutionen und politische Gruppierungen, die Formen der Erinnerung an den Krieg zu gestalten und zugleich Interpretationsmodelle zu liefern. Überall herrschte das Bestreben vor, der Toten zu gedenken und ihr Opfer zu ehren, und so setzten sich auch die Turn- und Sportverbände intensiv mit der Frage auseinander, auf welche Art und Weise und mit welcher Zielsetzung man der gefallenen Vereinsmitglieder gedenken sollte.

Eins darf man nicht vergessen, und auch mir ist wichtig daran zu erinnern: Wir sprechen bei den Gefallenen aus den Reihen des Sports über junge Männer, die meist im treuen Glauben, für die richtige Sache zu kämpfen, in den Krieg gezogen waren. Sie starben und litten – sicherlich oft desillusioniert – genauso wie die Kameraden im Schützengraben gegenüber. Der Krieg machte sie gleich. Die einfachen Soldaten waren sich dessen oft bewusst. Ohne dieses Wissen wären Ereignisse wie die Fußballspiele zwischen Briten und Deutschen an Weihnachten 1914 kaum denkbar gewesen. Der Tod des Sohnes, des Bruders, des Sportkameraden wurde zuhause als großer Verlust empfunden. Und in den Vereinen waren die Gefallenen eben keine anonyme Zahl. Der Sportkamerad war nicht mehr da. Sicherlich war die schlichte Trauer um den Verlust ein wichtiger Grund, warum viele Vereine damit begannen, Denkmäler zu errichten und eine oft spezifische Form des Totengedenkens zu entwickeln. Viele Vereine hatten zudem eine erschreckend große Zahl an gefallenen Vereinsmitgliedern zu beklagen. Beim TSV 1860 München hatten beispielsweise 1.150 Mitglieder Feldgrau getragen, und 142 waren gefallen. Die nicht mehr aus dem Feld zurückgekehrten Vereinsmitglieder und ihr Opfer blieben Bestandteil des Vereinslebens und im Bewusstsein. Man gelobte, sie nicht zu vergessen.

Heute wird in den wenigsten Vereinen bei öffentlichen Anlässen der Toten der beiden Weltkriege gedacht. Das ist nicht nur schade, weil hinter jedem gefallenen Sportler ein Schicksal und ein Name steht.  Es wäre eine gute Gelegenheit, um über die Aufgabe und Werte des Sports in der heutigen Zeit nachzudenken. Man muss es nicht so pathetisch formulieren, wie es der DFB im Jahr 1920 in seinem Jahrbuch schrieb: „Auch jener Männer gedenken wir heute noch einmal, die in der Vollkraft der Jahre der unbarmherzige Schnitter Tod aus unsern Reihen riß, und die jetzt der grüne Rasen deckt.“ Aber wenn wir etwas lernen wollen, aus dem unsäglichen Leid der Weltkriege, wenn wir erkennen wollen, dass der Sport heute in einem vereinten Europa für die Werte, für die er vermeintlich steht, laut und deutlich eintreten muss, dann ist die Erinnerung an die eigenen Toten in den Kriegen etwas, dass man nicht beiseite schieben sollte.

In der Weimarer Republik fanden regelmäßig sportliche Wettkämpfe zu Ehren der gefallenen Turner und Sportler statt. So veranstaltete der Dresdner Leichtathletikverein „Dresdensia“ 1923 bereits zum dritten Mal eine „Gefallenen-Gedächtnisstaffel“, bei der sich die Wettkämpfer „zu Ehren unserer gefallenen Kameraden im friedlichen Wettkampf“ miteinander messen sollten. Sich nicht nur nach friedlichem Wettkampf die Hände zu reichen, sondern regelmäßig an die Toten der Kriege aus den Reihen des Sports zu erinnern; das sollten wir nicht nur am Volkstrauertag tun.

(Autor: Dr. Peter Tauber)

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